Die verzauberten Frauen
Tibors Begleiter taumelte, fiel zur Seite, bäumte sich noch einmal auf und blieb verkrümmt liegen.
Tibor empfand nur noch erbärmliche, kreatürliche Panik.
Martin Velsmann blickte auf das imposante Viereck der Architektur des Innenhofes von Kloster Eberbach und versuchte immer wieder, sein Material zu rekapitulieren. Die Fakten. Und die Spekulationen. Er musste es unbedingt auseinanderhalten. Jetzt war der Moment gekommen zu sortieren. Er hoffte, das würde seine Nerven beruhigen. Und es sollte ihm helfen, de Rancé zu finden.
Was haben wir, dachte er.
Besser gesagt, was haben wir wahrscheinlich. Ich reime mir noch immer zu viel zusammen. Ich bin ein Dichter, Hauptsache der Reim stimmt.
Wir müssen uns also tatsächlich, dachte er, mit der Idee eines mystischen Verhängnisses beschäftigen, das sich auf einem angeblich urchristlichen Pergament befindet. Die Warnung vor dem Weltende im Jahr 2012. Zumindest die Existenz einer solchen Prophezeiung müssen wir anerkennen. Hier im Kloster wurde sie gefunden. Ein Pergament, das eine solche uralte Offenbarung enthält, ist natürlich ein kostbarer Schatz.
Velsmann sah nach allem, was er bisher erfahren hatte, den Aufmarsch zweier Kolonnen. So weit so gut.
Er sah die fundamentalistische Seite, die sich mit dem Besitz dieses Pergaments als elitärer, mächtiger Orden aufwerten wollte. Und die andere Seite wollte die Menschen an ihre Verantwortung für die Schöpfung erinnern. Für sie war die Prophezeiung eher eine Art Protokoll, das von verantwortlichen Menschen weitergeschrieben werden musste.
Ein Protokoll, das veröffentlicht werden sollte.
Es hatte jedenfalls, soweit war klar, in der Geschichte mehrere Gewalttaten und Morde um dieses Pergament gegeben. Velsmann hatte im Jahr 1983 den bisher letzten selbst erlebt.
Bis hierhin glaubte Velsmann sich auf gesichertem Boden zu bewegen.
War nicht sogar in jedem der prophezeiten Jahre ein Verbrechen geschehen?
Er ging die Daten der Prophezeiung im Geiste durch. Auch der Weg des Pergamentes ließ sich eine Zeit lang verfolgen. Es hatte die Prophezeiung zumindest schon im Dreißigjährigen Krieg gegeben, als der Kanzler des Schwedenkönigs im Kloster Eberbach danach fahndete. Sie musste kurz davor geschrieben worden sein.
Das prognostizierte Datum 53 nach Christus für die Ermordung des Apostels Bartholomäus war damals also bekannt. Auch das Jahr 1346, allerdings ohne Verbrechen. Es sei denn, dachte Velsmann, die erzkonservaten Verfasser hielten dieses Datum wegen der Inthronisierung Gerlachs von Nassau zum Mainzer Erzbischof für bedeutend. Immerhin starb Gerlach unter mysteriösen, nie aufgeklärten Umständen. 1648 als das nächste Ereignisjahr – Velsmann nannte es inzwischen die Hühnerleiter der katastrophalen Daten – stand für die Ermordung des Führers der Deisten Herbert von Cherbury. Er musste sterben, damit der Dreißigjährige Krieg beendet werden konnte. Im Jahr 1700 wurde der Erzengel, der gnadenlose Heeresmann Armand-Jean Le Bouthillier de Rancé, ermordet. 1801 starben vier Menschen am romantischen Rhein. Und 1946, dachte er weiter, wurden die aufklärerischen Schriften Poretes und Brentanos gefunden – auch das allerdings nur dann ein Verbrechen, wenn man es im Licht einer negativen Weltanschauung sieht. 1961 verübte man in Berlin das Verbrechen des Mauerbaus – und Velsmann war eingeweiht worden. 1983: der scheußliche Mord an Kessler in Fulda. Alle diese Daten seit 1648 waren den Verfassern des Pergamentes natürlich noch unbekannt. Sie mussten also im Lauf der Zeit von denen eingefügt worden sein, die das Pergament weiterschrieben. Wer das war und zu welcher Zeit es geschah, blieb ein Rätsel. Und das Jahr 2012? Das Jahr des Supergaus, den die Maya schon um 3000 vor Christus, der Hellseher Nostradamus im frühen 16. Jahrhundert, die Zeugen Jehovas und die heutigen Astrologen vorhersagen? Selbst die
Nasa
sieht den Eintritt eines Gestirns, das sie Planet X nennen oder auch den »Nibiru«, für das Jahr 2012 als größte Gefahr.
Erklären konnte das alles nichts. Doch gleichzeitig auch alles, musste Velsmann denken. Es kommt darauf an, wer damit punkten will.
Zumindest im Jahr 1961, dachte Velsmann, als die ominöse Schrift aus einem Grab im Kloster Eberbach geholt wird, stehen alle Daten schriftlich fixiert fest. Auch die Vorschau auf den Mord von 1983 also. Aber das kann natürlich alles manipuliert werden, wenn entsprechende Interessen dahinterstehen. Der
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