Die verzauberten Frauen
nicht erkennen, was es war. Aber der Unbekannte mit der schlürfenden Stimme war jetzt davor stehen geblieben.
»Ähh? Ähh? Was sagst du nun?!«
Die Frau auf dem Stuhl bewegte die Lippen. Blutbläschen traten hervor. Sie sagte etwas, aber leise. Ganz leise. Wieder trat der Unbekannte gegen den Stuhl. Die Frau stürzte erneut zu Boden.
Tibor konnte das alles nicht ertragen. Er stieß sich von der Wand ab und wendete sich in einem kindlichen Impuls um.
»Hören Sie, lassen Sie das doch! Sie kann sich nicht wehren! …«
»Was sagst du da!? Was sagst du Vieh!«
Der Mann, in dessen Gesicht Tibor jetzt für einen kurzen Augenblick sehen konnte, er war ihm aber unbekannt, sprang auf ihn zu. Er schlug ihm mit aller Kraft seine Faust gegen die Brust. In Herzhöhe. Tibor spürte einen stechenden Schmerz. Er japste nach Luft.
Der Schmerz breitete sich in seiner Brust, dann in seinem Kopf aus und er verlor den Halt unter den Füßen.
Unvorbereitet, dachte er, Fremdes, ganz Fürchterliches …
Natürlich hatte Martin Velsmann in Eberbach schon alles gesehen. Wie viele Mal war er hier gewesen! Er kannte jeden Stein. Und doch hatte er das Gefühl, erst jetzt, bei seinem siebenten Aufenthalt, zu begreifen, wonach er so lange gesucht hatte. Er hatte es als Junge gesucht. Er hatte es als Liebender gesucht. Er hatte es als erwachsener Mann, als Polizist und als Familienvater gesucht.
Jetzt würde er es finden.
Es war ein Schatz an Erkenntnis. Und sie überfiel ihn geradezu schmerzhaft. Es war der Moment, als er vor der Figur des lesenden Mönches stand, der ihm schon in seiner Kindheit begegnet war. Ein Lesender aus Stein unter einer Kapuze aus Stein, der ein Buch aus Stein so schief hielt, als sollten alle Buchstaben herausfallen. Warum tat er das?
Natürlich!
Er wollte die Seiten leeren. Sie sollten frei und leer werden für eine neue Botschaft. Es war eine symbolische Geste, gedacht für die geistige Welt, und gleichzeitig ein sehr zweckgerichtetes Tun. Denn dieser Mönch war kein anderer als Armand-Jean Le Bouthillier de Rancé!
Velsmann trat so nahe er konnte an die Figur heran, die neben dem Eingang zum Kapitelsaal auf einer Gewölbekonsole über seinem Kopf schwebte. Er hatte das gemalte Abbild von de Rancé auf der Seite eines ökumenischen Heiligenlexikons im Internet gesehen, es hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt. Dieser Mönch dort, mit seiner hohen, breiten, edlen Stirn, die von der lässig übergestülpten Kapuze nicht verdeckt wurde, mit seinem spitz zulaufenden Kinn, seinen scharf gezeichneten Nasenfalten, den strichdünnen Lippen und dem Dreitagebart, mit seinem vernichtenden Blick aus den Augenwinkeln, das konnte nur der Abtsmönch aus Soligny-de-la-Trappe sein!
Das Monstrum, wie Rosenthal ihn einst genannt hatte.
Der Vater der neuen, unheiligen Zisterzienser.
Er hatte sich auch hier im Kloster Eberbach verewigt!
Und wenn das tatsächlich stimmte, dann hatte Clemens von Brentano es gewusst. Das war der Zusammenhang.
Und darüber hinaus …
Velsmann lief, einer plötzlichen Eingebung folgend, den Kreuzgang hinunter, bog zweimal im rechten Winkel ab, musste auf defekte Steinplatten im Untergrund achten – und stand auf der anderen Seite des Ganges. Der Sandsteinfigur des lesenden Mönches genau gegenüber. Er konnte ihn von hier aus gut erkennen.
Velsmann schloss die Augen. Es war ein Spiel. Er drehte sich um. Dann öffnete er die Augen voller Erwartung.
Es war, wie er gehofft hatte.
An der Wand, etwas über Mannshöhe, in gerader Linie getrennt vom Abbild de Rancés nur durch den Innenhof des Kreuzganges mit seinem grünen Geviert, befand sich das Abbild einer Frau.
Eine lesende Frau auf einer aufgestellten Grabplatte aus grauem Sandstein, markiert mit der Inventar-Nummer 74. Sie hielt das Buch in ihren Händen so, als könnte sie die Buchstaben, Wörter, Sätze, die de Rancé aus seinem Buch herausschüttelte, auffangen. Ihr Gesichtsausdruck war glücklich. Während de Rancé misstrauisch und bitter aussah.
Armand-Jean und Marguerite, dachte Velsmann. Hier endlich treffen sie zusammen, vereint durch die Arbeit eines unbekannten Steinmetzes. Sie sind untrennbar verbunden. Zwei Seiten der einen Ideologie, ursprünglich in einem gemeinsamen Orden, der sich ab 1600 Fama Fraternitas genannt hatte. Irgendwann hatte es eine gewaltsame Trennung gegeben. Einen lauten Crash, vermutlich mit Kollateralschäden auf beiden Seiten. In den Scherben verblieben autoritäre
Weitere Kostenlose Bücher