Die verzauberten Frauen
spürte, wie Tränen in seine Augen stiegen. Warum habe ich nicht auf dich gehört!
Martin Velsmann verließ fluchtartig das Kloster. Er griff zum Handy. Während er ins Auto stieg, wählte er Breitenbachs eingespeicherte Nummer.
»Haben Sie endlich was rausgefunden?«, fragte er atemlos.
»Sind Sie gerannt?«, fragte Breitenbach zurück. »Sie sollten auf Ihre Gesundheit –«
»Karen, reden Sie schon, mein Gott!«
»Sie hatten recht. Es ist Derrance, es ist Porete.«
»Verflucht. Danke!«
»Wollen Sie nicht die Einzelheiten hören? Es ist alles nicht so, wie Sie sich das vorgestellt haben.«
»Warten Sie, ich leg das Handy einen Moment hin, ich muss starten.«
Velsmann nahm in schneller Fahrt den Weg nach Hattersheim. Jenseits des Tals zur Linken erblickte er eine Ansammlung von Menschen auf dem Gelände des Klinikums Eichberg.
»So, jetzt, schießen Sie los!«
Breitenbachs Stimme klang wie immer kühl und klar, sie stürzte wie ein Gebirgsbach durch Velsmanns überhitzte Seele. »Ich habe mich kundig gemacht. Also entweder ist Ihr de Rancé ein Untoter, der durch die Zeiten geistert und sich gierig vom Blut Lebender ernährt –«
»Vergessen Sie das!«
»… oder er hat Nachkommen. Eine Blutlinie. Eine führt, halten Sie sich fest, bis zu Mark Sennsler.«
»Der Archivar aus dem Bundesarchiv Koblenz!«
»Ganz genau. Wir haben ihn in den Achtzigern kennengelernt.«
»Und er hat mir neulich aufgelauert.«
»Ist das wahr? Ja und?«
»Er redete wirres Zeug. Machen Sie weiter, Karen.«
»Ich habe die Linie nachvollzogen. Mit Einzelheiten kann ich Sie konfrontieren, wenn Sie nach Fulda kommen. Aber die Fakten, die unsere Computer ausspucken, sind eindeutig.«
»De Rancé ist also Mark Sennsler. Ich habe ihn gerade im Kloster Eberbach gesehen.«
»Wie meinen Sie das? Wen haben Sie gesehen?«
»Wenn ich Ihren Ausführungen folge, dann beide.«
»Einer ist der Vater, der andere ist der Sohn.«
»Und dazwischen liegen mehrere Väter und Söhne?«
»Ja, natürlich. Ich lege Ihnen die komplette Generationenliste vor, die natürlich schon vor de Rancé und vor Sennsler begann, denn diese Ideologen gab es schon immer – darunter sind bekannte Gestalten, das kann ich Ihnen flüstern. Alles muss zur Zeit dieser Märtyrerin, dieser Marguerite Porete, begonnen haben. Ich nenne nur ein paar Auserwählte. Da haben wir Gui de Colmien, Bischof von Cambrai um 1300, dann den schrecklichen Generalinquisitor des Papstes Wilhelm von Paris, der die Märtyrerin und übrigens auch die Templer eigenhändig folterte. Hercule de Rohan zu Beginn des 17. Jahrhunderts, Duc de Montbazon und Vater der Marie de Rohan-Montbazon. Kardinal Richelieu, nach außen hin nur de Rancés Patenonkel. Papst Pius IX., Mitte des 19. Jahrhunderts. Oder zur Abwechslung mal ein weiblicher Erzengel, nämlich Charlotte Bußmann, wohl aus einer Nebenlinie. Wobei nicht klar ist, wie viele Frauen dieser Blutlinie entstammten und ›entsorgt‹ wurden. Charlotte jedenfalls bedeutete ein düsteres Kapitel im Leben des Clemens von Brentano, schon den Zeitgenossen mutete ihr seltsames Verhalten an wie ein Anschlag dunkler, dämonischer Mächte. Dann noch einige Generaläbte der Zisterzienser strengerer Observanz, vor allem Herman-Joseph Smets, der die Vereinigung zwischen 1929 und 1943 führte. Ich erwähne noch den Gründer von ›Werk Gottes‹, den Spanier Josemaria Escrivá, eine recht düstere Figur. Und den wichtigsten Mann der heutigen Glaubenskongregation im Vatikan, da will ich aber keinen Namen nennen, wir könnten verklagt werden. Soll ich fortfahren?«
Velsmanns Wagen stürzte ins Rheintal hinunter, fiel über die Bundesstraße her, machte den Verkehr nieder, kämpfte sich vorwärts, getrieben von einem Fahrer, der sich hin und wieder über die Augen wischen musste, um klare Sicht zu haben.
»Herr Velsmann? Soll ich fortfahren?«
»Ich musste gerade an Bartholomäus denken.«
»Bitte?«, sagte Breitenbach. »Woran?«
»Ich schwöre es, an Bartholomäus. Erinnern Sie sich nicht?«
»Herr Velsmann …«
»Fahren Sie bitte fort«, sagte Martin Velsmann. »Reden wir über Armand-Jean Junior.«
»Über Mark Sennsler, meinen Sie? Das ist einfach. Er hat am Tatort in Fulda seine DNA hinterlassen. Das konnten wir jetzt eindeutig bestimmen. Wir haben die Proben mithilfe eines Kollegen in Ehrenbreitstein abgeglichen.«
Alle diese Frauen, dachte Velsmann. Diese Beginen. Bewahrerinnen und Hüterinnen des Lebens.
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