Die verzauberten Frauen
einen leibhaftigen Engel, der ein Buch hielt, er las aber nicht. Konnten Engel überhaupt lesen? Im Hof plätscherte ein Brunnen. In dunklen Sälen standen klobige Keltern und es roch vergoren nach Weintrauben. Schimmel saß auf den Wänden und eine Fledermaus suchte flügelschlagend nach einem Ausweg.
Die Kirche durfte Martin allein nicht betreten. Er hätte gern die Figur des lachenden Abtes wiedergesehen, der lässig wie ein Tänzer unter einem Baldachindach stand, ein schlanker, lebender Mensch, umgeben von Toten oder gerade Sterbenden. Überall roch es nach Steinstaub und es war totenstill. Der Junge spürte es, und als er die Hände gegen die warmen Mauern legte, merkte er es deutlich in den Fingerspitzen, wie etwas in den dicken Mauern nagte. Das spürte er auch, wenn er zu Hause auf dem Dachboden in seiner ausstaffierten Weintonne lag und von einem Feenreich träumte, das in den Wolken schwebte. In diesem ureigenen Königreich gab es ein geheimnisvolles, unsichtbares Leben, das nur er kannte.
Im Kreuzgang probte der Junge ein paar Tanzschritte. Natürlich war er damit noch nicht gleich Mitglied im Orden der androgynen Philochoreiten, das war ja klar, und er wusste auch nicht, ob Zwölfjährige überhaupt Zutritt hatten zu den Liebeshöfen. Aber Martin nahm sich vor, die Cours d’amour zu stürmen, wenn es an der Zeit war. Die Gebräuche der Chevaliere würde er spielend erlernen. Er vollführte eine Figur, die in einer halben Drehung mit ausgestreckten Armen endete, und im gleichen Moment spürte er wieder diesen Hauch, den er schon am Berg mit der verzauberten Frau wahrgenommen hatte.
Etwas streifte ihn.
Oder jemand.
Martin stand wie erstarrt. Nein, das bildete er sich nicht ein. Sein Blick fiel auf zwei stehende Grabplatten. Er wusste, dahinter befand sich kein Grab, das waren nur alte, müde gegen die Mauern gelehnte Ausstellungsstücke. Aber dennoch kam es ihm vor, als wehte ein eiskalter Grabeshauch hinter diesen Steindeckeln hervor. Etwas rannte davon, vielleicht hier, vielleicht auch an einer ganz entfernten Stelle des Kreuzganges, vielleicht stürmte es durch die düsteren Räume der Weinkeller mit ihrem weißen Schimmelpilz an schwarzen Wänden davon.
Derancé!
Erst nach einer Weile löste sich der Schreck in ihm. Er sah sich die Abbildungen auf den Grabplatten genauer an. Und er bildete sich ein, der Mann auf der linken Platte, der wie in Not den Mund aufriss und dessen Augen voller Angst schienen, riefe ihm etwas zu. Etwas, das klang wie: Alles was geschieht, hat mit dir zu tun! Alles hier ist für dich gemacht! Begreifst du das?
Nein, nein, dachte Martin, das geht mich nichts an, ich bin ganz zufällig hier. Mit Vater und Großvater. Lasst mich bloß alle zufrieden. Es war ihm, als würden auf dem durchlaufenden Fries am Kopf der Platten die Figuren lebendig werden. Sie bewegten sich wie auf Großvaters Lochstreifen, wenn er die Kurbel betätigte und die Trommel lief und in der Box die Gestalten lebendig wurden. Heimkino, das aus dem Nichts heraus ein Geheimnis entließ, nur diesmal viel näher und bedrohlicher, mit Grimassen schneidenden Alten, liegenden Frauenwesen mit Schlangenschwänzen, Gepanzerten mit Waffen und geflügelten Fabelwesen, die ihre Krallen zeigten. Und alle schienen den Jungen anzusehen, das erkannte er plötzlich. Sie machten alles nur für ihn.
Alles was geschieht, hat mit dir zu tun!
Martin drehte sich um und rannte davon. Den Kreuzgang hinunter, um die Ecke herum, er kam bis zum Turmaufgang.
Die Tür zum Turm war geöffnet, eine schwere Holztür. Er blickte hinein, kein Mensch, im leeren Raum am Treppenabsatz gab es einen Sog, den Martin vom Kamin im Haus seines Großvaters kannte, wenn er Feuer machen durfte. Er schlüpfte durch den Eingang. Die Wendeltreppe kroch in die Höhe. Auf halber Höhe der Treppe blieb Martin hastig atmend stehen und lauschte. Niemand folgte ihm. Er ging weiter. Oben angekommen stand er in kahlen Räumen. Überall an den Wänden klebten beschriftete Blätter. Er verstand nicht, was das bedeutete. Vielleicht waren das Notizen für die Einrichter, die diese Räume möblieren sollten. Er hatte davon reden hören, dass man das Kloster ganz neu ausgestalten wollte.
Und dann begriff er es. Das andere war ihm gefolgt. Er hatte es nicht abschütteln können. Es war da.
Und er hörte es raunen, wie es einst an seinem Bett geraunt hatte, bevor er erwachte: Alle Leiden sind Freuden, alle Schmerzen scherzen, und das ganze Leben singt aus meinem
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