Die verzauberten Frauen
– Und Sie sagen, wir hätten hier keinen Tatort!«
»Ach, Unsinn«, entfuhr es Velsmann unbehaglich. »Machen Sie bloß meinem Jungen keine Angst.«
»Und Sie ganz persönlich, Herr Rosenthal, Sie glauben daran, dass auf diesem Pergament unser Ende aufgezeichnet ist?«, feixte der Großvater.
»Wenn es das Original ist, dann komme ich nicht drum herum«, antwortete Rosenthal. »Wenn es die Experten ausgewertet haben, werden wir mehr wissen. Ob die Prophezeiung sich erfüllt, ist eine ganz andere Sache.«
»Und wann kommt Ihr Monstrum ins Spiel?«, fragte Velsmann.
»De Rancé war das Monstrum der Zisterzienser, ihr Totengräber.«
»Erzählen Sie«, bat Velsmann.
»Der Wüstling bekehrte sich, als seine Freundin starb, mit der er einen Nachfolger gezeugt haben muss. Er verschenkte sein Riesenvermögen und gründete den einzigen Orden innerhalb der katholischen Kirche, der nie reformiert wurde, bis heute nicht. Die Kirche hielt sein Leben für unheilig, er wurde nie selig oder gar heilig gesprochen. Und das, obwohl dieser fanatische Mönch auf seine Art wirklich der Erzengel schlechthin war, nach dem jeder Heilige Vater sich die Finger ableckt. So wie er nach seiner Erleuchtung die irdische Welt hasste und Gottesfurcht predigte, das war grandios!«
»Und dieses Pergament, meinen Sie jetzt, könnte von ihm stammen?«
»Es trägt sein Wappentier. Ganz eindeutig. Das ist seit heute Morgen unsere gesicherte Erkenntnis. Das kann er aber nachträglich hineingezeichnet haben – oder jemand in seinem Auftrag. Falls das Pergament älteren Datums ist. Die zweite Erkenntnis ist, dass auf dem Sargdeckel in verschlüsselter Form auf einen der früheren Äbte des Klosters hingewiesen wird, auf Gerlach von Nassau. Zumindest erkennen wir sein Mainzer Rad und das stilisierte Lamm Gottes.«
»Der lachende Abt!«, rief Martin.
»Na hören Sie«, warf Großvater ungewohnt gehässig ein, »der Totengräber der Zisterzienser hinterlässt eine geheime Botschaft in einem Kloster der Zisterzienser? Warum?«
»Das mag Ihnen komisch vorkommen, aber so könnte es sein. Wenn wir hier noch eine funktionierende Bibliothek hätten, könnten Sie alles über ihn lesen. So müssten Sie nach Wiesbaden fahren.«
»Was sind Zisterzienser?«, wollte Martin wissen.
»Das lass dir lieber von Vater oder Großvater erklären, mein Junge. Ich muss jetzt zurück in mein Büro. Machen Sie noch einen Rundgang, zeigen Sie Ihrem netten Jungen alles, und kommen Sie später noch einmal kurz bei mir vorbei.«
»Kriege ich dann meine Belohnung?«
»Deine Belohnung?«
»Ich habe den lesenden Mönch mit dem Buch neben dem Eingang zum Saal mit der Säule gefunden.«
»Ja richtig. Du bekommst deine Belohnung, natürlich! Also bis dann!«
»Was sind Zisterzienser? Sind es schmucklose Steine?«
»Ach was«, lachte Großvater.
»Gehen wir ein Stück nach draußen«, schlug der Vater vor. »Was ich dir erklären kann, werde ich versuchen.«
»Außerdem habt ihr ja noch den alten, weisen Großvater dabei«, sagte Großvater.
Draußen empfing sie das Sonnenlicht wie eine Umarmung.
Der Sachbearbeiter sprach ungewöhnlich langsam und er betonte in jedem Wort eine Silbe, wobei er mit dem Kopf nickte und seine blonden Locken schüttelte. Was er zu sagen hatte, schien aus tiefsten Tiefen aufzusteigen, beschränkte sich in Wahrheit jedoch auf gewöhnliche Mitteilungen. In der Gerüchteküche der Behörde, rund um die beiden neuen Automaten für heiße und kalte Getränke im Aufenthaltsraum, galt er deshalb als einfältig. Und trotz seiner Schönheit, die ihm den spöttischen Namen Engel der Asservatenkammer eingetragen hatte, suchte niemand seine Nähe, auch die Frauen von Ehrenbreitstein nicht.
In diesem Fall ging es um eine Lieferung vom frühen Nachmittag. Sie musste an den richtigen, den dafür zuständigen Platz transportiert werden, um dort untersucht zu werden und danach auf ihre weitere Bestimmung zu warten. Ein alltäglicher Vorgang, der jedoch unverhältnismäßig viel Papierkram mit sich brachte. Der Engel der Asservatenkammer besah sich die Lieferung, wunderte sich über ihre ungewöhnliche Zusammensetzung, besah sich dann den jungen Boten und zog Vordrucke aus der Schreibtischschublade.
Der Lieferant war nervös und musste warten, bis das Zeugs, das er gebracht hatte, mit Objektbeschreibung und Registriernummer auf den Formularen eingetragen war, eine Art hochkonzentrierter Schnellinventur. Er hatte oft genug erfahren, dass die Labore
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