Die verzauberten Frauen
besitzt?«
»Ich glaube«, sagte Velsmann, »Sie deuteten etwas Ähnliches schon an.«
»Poesie verfügt über eine eigene Wirklichkeit. Sie schafft eine neue, eigenständige Wirklichkeit, die den faktengläubigen Tatmenschen fremd ist. Wirkliche Poesie kümmert sich schlechterdings überhaupt nicht um die sogenannte Realität. Sie setzt eine völlig eigenständige an deren Stelle. Deshalb halte ich Ihre Version eines Tatort-Protokolls über eingebildete oder tatsächliche Ereignisse auf der Loreley auch schlicht für ein Hirngespinst.«
»Und wenn es doch so wäre?«
»Was wollen Sie damit anfangen?«
»Ich will Klarheit«, sagte Velsmann. »Es treibt mich um. Ich brauche das einfach als eine Art Lichtstrahl, der in meine Kindheit leuchtet. Oder aus ihr heraus.«
»Nein. Sie wollen nur recht haben. Sie glauben, etwas entdeckt zu haben, das kein anderer sieht. Und damit ziehen Sie herum. Sie wollen sich damit wichtig machen.«
»Also hören Sie mal! Warum sind Sie so grob?«
»Es mag provokant sein, was ich sage, aber stimmt es nicht?«
»Vielleicht.«
»Aber Sie fragten mich ja nicht nach dem Gedicht Lore Lay , das Sie für ein Tatort-Protokoll halten. Sie fragten nach der Chronika . Dieser Text nimmt im Werk Brentanos eine Sonderstellung ein.«
»Inwiefern?«
»Stellen Sie sich einen Dichter vor, der eine Geschichte erzählen will von einem schönen Bettler und drei Jungfrauen. Und der plötzlich das Gefühl hat, er verschmelze mit seinem Text. So ging es Brentano mit der Chronika des fahrenden Schülers . Es ist eine märchenhafte Geschichte von den Gefahren des Lebens und den Verlockungen der Liebe. Und Clemens ist der schöne Bettler, der Held seiner eigenen Geschichte.« Sievers nahm den Hut ab und wischte sich mit einem Taschentuch über die blasse Stirn.
»Sprechen Sie doch weiter, Herr Sievers. Ich höre Ihnen gern zu.«
»Ich zitiere Ihnen aus der Erinnerung ein paar Textstellen, sehen Sie selbst, was Sie damit anfangen können.«
Es war still und heiß im Garten des Brentanohauses. Ein kleines, irdisches und zudem noch privates Paradies fremder Menschen, in das Velsmann sich den Eingang erschlichen hatte.
» Ich sehe, dass ein Stern über den Felsen steht, der heißt Wehmut, und von dem steht in der Offenbarung Johannis, wenn er senkrecht über dem Brunnen steht, da erwacht der Perlengeist. «
»Der Perlengeist?«
»Das ist bei Brentano der Bewacher von Tränen, die jemand weint, und wenn es echte Qual ist, dann werden kostbare Perlen daraus.«
»Mmh …«
»Poesie, erinnern Sie sich? Die Romantiker. Poetisierung des Lebens als Programm!«
»Schon gut. Bitte weiter.«
» Der Perlengeist erschien bald als ein Weib, bald als ein Jüngling, und er zog durch seine liebliche Musik die Menschen zu sich hinab ins Verderben … «
»Er kann sein Geschlecht wechseln? Ich gebe zu, dass dahinter wohl kaum reale Erfahrungen des Poeten stehen können. Also eher kein Tatort-Protokoll.«
»Sie sind einsichtig. Weiter. Oh, mein Sohn, sprach der Schiffer, verweile nie ohne Geschäft zur bloßen Lust in den Wellen dieses Flusses; denn dort drüben wohnt in den Klippen eine Sirene, die weltliche Lust und Liebe vereint, die dich hinabziehen kann mit ihrem süßen Gesang in den Strudel der ewigen Trauer. «
»Das ist die Loreley, nicht wahr?«
»Vielleicht. Hören Sie weiter. Am folgenden Morgen stand der Jüngling früh auf und beging den ersten Mord. Er schnitzte einen Bogen und erschoss – einen Seevogel, um eine Feder zum Schreiben zu haben. Mit dem Blute des Vogels begann er die Buchstaben, die er kannte, nachzumalen. Und er schrieb das Geständnis seiner Liebe in das Buch, und zwar in Form einer Weissagung – «
»Stopp! Ich bewundere Ihr Gedächtnis, Herr Sievers! Können Sie das bitte wiederholen?«
Sievers tat es.
» Er schrieb das Geständnis seiner Liebe in das Buch, und zwar in Form einer Weissagung «, sprach Velsmann nach. »Das ist Brentano! Dieser schöne Bettler, das ist Clemens Brentano!«
»Eine eigenwillige Interpretation«, lächelte Sievers. »Aber warum nicht? Chronologisch gesehen, käme jetzt die Textstelle, die Brentano auf die Weissagung des Originals gelegt hat, ich habe Sie Ihnen schon zitiert. Es geht noch ein Stück weiter. Brentano schreibt in der Chronika : Erst nachdem ich lange hier gewohnt, entdeckte ich die beiden Unglücklichen und das Buch, über welches sich seine Tränen also verbreitet haben, wie du an den schimmernden Stellen siehst.
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