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Die verzauberten Frauen

Die verzauberten Frauen

Titel: Die verzauberten Frauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Berndt Schulz
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enthalten einen realen Kern. Sie erhebt den Anspruch, Geschichte und Natur zu deuten, und sie holt das Fantastische herein, das nicht nur Fiktion ist, denn es lebt im Kopf des Erzählenden und beschreibt Geschehnisse mit den Farben subjektiver Wahrheit   …«
    Diese Stelle nahm Velsmann gefangen. Das war sein Thema. Die Stoffe der Sage enthalten immer einen realen Kern. Traf das auch auf Märchen und Gedichte zu? Konnte man darüber irgendetwas Verlässliches erfahren?
    Plötzlich kam ihm ein Gedanke, der die Stimme des Referenten völlig in den Hintergrund treten ließ.
    Konnte es Nachfahren geben? Opfer und Täter des scheußlichen Mordes , die heute noch lebten? Nachfolger der Ermordeten und Nachfahren des Mörders, Nachfahren der Selbstmörderin? Keine Untoten natürlich. Lebendige Menschen. Aber er wusste ja nicht einmal, wer die Opfer eigentlich waren. Es war erstaunlicherweise nie geklärt worden. Wie sollte man dann die Töchter und Söhne aufspüren?
    Das war es doch, was er eigentlich herausfinden musste! Aber er wusste, es war unmöglich, denn die Sache war als preußisches Staatsgeheimnis versiegelt worden.
    Dr.   Fausts Stimme drängte sich wieder in Velsmanns Bewusstsein.
    »…   Literarischen Ansprüchen genügen die Sagen nicht immer. Aber man wird eine Vielfalt an Themen, Stilen und Erzählhaltungen finden, die einen Überblick schaffen. Neben Kolportagedramen mit blutigen Ritualen und Brudermord stehen sorgfältig historisierende Bilderbogen   …«
    Martin Velsmann begriff, dass der Vortrag ihn nicht weiterbringen würde. Immerhin hatte er ihm einen brauchbaren Ansatz beschert. Er verließ den Vortragssaal. Im Erdgeschoss fragte er die Bibliothekarin nach einer Publikation über das Verbrechen auf der Loreley. Darüber gab es in kriminologischer Hinsicht nichts Spezielles. Aber sie legte ihm eine germanistische Doktorarbeit aus dem Jahr 1870 vor: Romantische Phantasie im Spannungsfeld von religiöser Deutung und staatspolitischer Aufklärung . Velsmann war skeptisch, fragte aber, ob er die Schrift ausleihen könne. Nein, er könne sie nur im Museum lesen. Er würde vielleicht wiederkommen, sagte Velsmann.
    Die Bibliothekarin wies auf etwas in seinem Rücken und eilte davon. Der Referent betrat den Lesesaal, um sich zu verabschieden. Velsmann bat ihn, ihm ein paar Fragen zu beantworten.
    »Ich muss leider gehen, ich habe es eilig«, bedauerte Dr.   Faust.
    »Wie schade, kann ich Sie anrufen?«
    »Sie können mich ein Stück Wegs begleiten, wenn Sie wollen. Ich wohne in Bingen. Bis zu mir sind es zehn Minuten zu Fuß. Reicht diese Zeit?«
    »Auf jeden Fall!«
    Sie gingen ein Stück der neu angelegten Rheinanlagen am Ufer entlang, bogen dann in die ausgedehnte Begrünung Richtung Stadt ab.
    Faust hatte eine auffällige Art zu gehen. Mechanisch wie ein Roboter, mit rudernden Armbewegungen, das war Velsmann im Museum nicht aufgefallen. Wahrscheinlich ein Hüftleiden.
    Velsmann fragte den Lokalhistoriker nach dem Märchen mit der »waschechten Rheinnixe«.
    Es sei die Sage Der Fuß an der Wand , erklärte Faust, eine tragische Erzählung von der Staufenburg um die bedingungslose Liebe einer Frau und gebrochene Versprechen eines machthungrigen Mannes. Er könne ihm den Text zufaxen, wenn er wolle.
    »Danke«, sagte Velsmann, »das wäre nett. Ich interessiere mich aber nur privat für diese Dinge, nicht wissenschaftlich.«
    »Privat?«, echote Faust. »Was meinen Sie damit?«
    »Nun, ich will das Ganze nicht nachspielen«, lachte Velsmann. »Ich sehe verschiedene Dinge im Zusammenhang mit diesem Mord, von dem ich schon sprach. Aber darüber können Sie mir ja nichts sagen.«
    »Nein«, sagte Faust, »mich interessieren Texte, keine realen Verbrechen.«
    Velsmann hatte plötzlich das Gefühl, dass sein Begleiter log. Aber warum sollte er?
    »Das kann ich verstehen«, sagte er, »aber wenn Verbrechen nicht aufgeklärt worden sind, dann bleibt etwas Ungutes zurück. Schatten und reale Menschen. Das Vergangene ist nicht immer vergangen, dass wissen Sie als Historiker sicher. Das beschäftigt mich.«
    Faust blieb abrupt stehen. »Lassen Sie das lieber! Wir haben mit der Gegenwart genug zu tun. Die Gegenwart ist das Interessante. Nur wer sie kennt, kann sich ein Bild von der Vergangenheit machen. Es gibt zu viele, die im Vergangenen herumstochern und Unheil anrichten, weil sie ihren eigenen Standort in der Gegenwart absolut nicht kennen. Und weil sie nichts begreifen, fangen sie an, mit wilden Theorien

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