Die verzauberten Frauen
treffe.«
»Sie scherzen doch, Sievers!«
»Nein, durchaus nicht. Wenn Sie mein Bruder wären, könnten Sie bald sterben wie ich.«
»Wer hat Sie angerufen?!«
»Eine männliche Stimme. Anonym natürlich, verzerrt. Sie kennen so was sicher. Ich darf Ihnen die Kopie nicht aushändigen.«
Velsmann sagte verdattert: »Aber was soll das! Mit wem haben Sie darüber geredet? Mit Ihrem Vorgesetzten, mit der Familie Brentano?«
»Ich mache das auf eigene Rechnung, Herr Velsmann.«
»Aber wer wusste davon?«
»Keine Ahnung, wirklich.«
»Wer kann ein Interesse daran haben, die Weitergabe zu untersagen?«
»Die Brentanos wohl kaum«, sagte Sievers und zog ein Papier aus der Jackentasche. »Die rufen mich nicht anonym an. Die sagen mir das jederzeit ins Gesicht. Hier, lesen Sie!« Er blickte zum Himmel. Dann zog er eine Taschenlampe heraus und ließ den Lichtstrahl auf das Papier fallen.
Velsmann entfaltete den Bogen begierig. Er las.
Und er erschrak.
»Das – ist doch wohl nicht wahr, Sievers. Oder? Das ist doch … billige Fälschung! Das kann keine Mitteilung aus dem Dreißigjährigen Krieg sein oder aus sonst einem frühen Jahrhundert!«
»Es ist zweifelsfrei aus dem 14. Jahrhundert. Das wissen wir inzwischen.«
»Der Dreißigjährige Krieg war 1618 bis 1648«, sagte Velsmann mechanisch.
»Eben. Aus dieser Zeit ist die Botschaft nicht. Sie stammt aus dem 14. Jahrhundert. Das haben die Labore in Ehrenbreitstein geklärt. Ich komme gerade von dort. 14. Jahrhundert, Herr Velsmann, nicht später aber auch nicht früher! Sie wissen, was das bedeutet?«
»Nein«, bekannte Velsmann, und schien dabei einigermaßen durcheinander.
»Uns stehen einige Dinge bevor. Davon haben wir noch gar keine Ahnung.«
»Jetzt unken Sie nicht, Sievers! Reden Sie doch bitte Klartext. Ich bin nur ein einfacher Polizist, mein Gott! Was ist mit diesem Pergament, mit dieser Warnung, mit diesem Omen, mit diesem Scheiß los? Und wer hat den Wisch geschrieben?«
»Es ist damit los«, erklärte Sievers, »dass in diesem Jahr oder noch wahrscheinlicher im nächsten etwas Unangenehmes passieren wird. Und wer es geschrieben hat? Jedenfalls jemand, der behauptet, mehr zu wissen als wir.«
»Wenn wir überhaupt an solche Sachen glauben! Neulich hat jemand zu mir gesagt, 1984 stünde vor der Tür! Na und? Sollen wir deshalb aufhören zu atmen?«
»Das sicher nicht. Im Gegenteil. Nach Luft schnappen werden wir bald mehr als uns lieb ist. Aber Sie müssen mir nicht glauben. Sie müssen auch diesem Pergament nicht glauben. Sie wollten es lesen. Tun Sie das! Und ziehen Sie Ihre Schlüsse daraus.«
»Glauben Sie daran?«
»Brentano glaubte daran. Das ist für mich als Literaturforscher das Entscheidende. Clemens war ein kluger Mann, ein sensitiver Mensch, kein Spinner. Wenn er das Original dieser Mahnung mit seiner Handschrift versah und es dann vergrub, dann waren die Befürchtungen, die er hatte, ganz real. Ein Mann, der in der damaligen Zeit buchstäblich durch eine private Hölle ging, für den war die Hölle auch ganz real vorhanden. Und aus den Tiefen dieser Hölle kam diese Prophezeiung – metaphorisch gesprochen.«
»Ein bisschen arg dramatisch, Herr Sievers!«
»Clemens glaubte, er könne sich retten, wenn er dieses Pergament vergrub! Was bedeutet das? Denken Sie mal darüber nach!«
»Wenn ich daraus Schlüsse ziehen würde, müsste ich annehmen, er wollte unter allen Umständen verhindern, dass jemand anderer die Warnung, die er mit seinem Kommentar zu bannen versuchte, las.«
»Ganz recht.«
»Und?«
»Das Papier ist trotzdem immer wieder aufgetaucht. Und immer, wenn das geschah, gab es ein Verbrechen.«
»Ist das zu belegen?«
»Ja.«
»Als es im Jahr 1961 auftauchte, gab es kein Verbrechen.«
»Wir müssen begreifen, dass es nicht nur um private Verhältnisse geht, sondern auch um weltpolitische Ereignisse.«
»1961«, überlegte Velsmann, »wurde in Berlin die Mauer gebaut.«
»Und Sie waren ein Junge, der davon erfuhr. Gleichzeitig erfuhren Sie von der Prophezeiung. Vielleicht hat das alles mit Ihnen zu tun. Und Sie müssen es weitergeben.«
»Jedenfalls vielen Dank, dass Sie sich die Mühe gemacht haben, hierherzukommen«, sagte Velsmann ironisch. »Übrigens, sind Sie nicht im Auto angereist?«
»Doch, natürlich.«
»Ich habe keins gehört.«
»Das ist doch egal. Ich laufe gern. Jetzt muss ich gehen. Wir werden uns sicher bald wiedersehen.«
Sievers verschwand erstaunlich behände, trotz
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