Die verzauberten Frauen
…
Die Prophezeiung, die Mahnung, die Weissagung, diese ominöse Fahne im Wind der Geschichte. Ich muss den verdammten Wisch endlich einmal lesen. Ich mache den Koblenzern die Hölle heiß. Ich will Akteneinsicht.
Wie hatte Sievers sich ausgedrückt? Fallen Sie dem Archiv lieber nicht zur Last! Nehmen Sie keinen Kontakt auf!
Das war wieder ein solcher Satz, der erst später zündete. Velsmann wendete ihn hin und her. Das hatte harmlos und fürsorglich geklungen. Aber war es so gemeint?
Was würdest du denken, Woyzeck, dachte Velsmann.
»Wollen Sie den Vortrag hören?«, fragte die Angestellte, die an seinen Tisch getreten war. »Dann müssen Sie sich beeilen.«
»Welchen Vortrag?«, fragte Velsmann verdattert.
»Über die Rheinsagen. Spurensuche, Spurenverwischungen und Verluste bei den romantischen Erzählern.«
»Tatsächlich?«, fragte Velsmann.
»Der Vortrag beginnt in ein paar Minuten. Der Vortragssaal befindet sich oben im ersten Stock. Es gibt einen Aufzug.«
Martin Velsmann wollte diesen Vortrag auf jeden Fall hören. Er deponierte das ausgeliehene Buch bei der Bibliothekarin und machte sich auf den Weg. Zusammen mit dem weißhaarigen Leser, der sich als der Vortragende entpuppte.
Velsmann benutzte den Moment des Schweigens im Fahrstuhl, um den Referenten, er hieß Dr. Martin Faust, zu fragen, ob er etwas über den Dreifachmord auf der Loreley aus dem Jahr 1801 wisse.
Nein. Nie gehört. Er sei Bingener Lokalhistoriker. Die Loreley befände sich in einem anderen Bundesland.
Velsmann gab sich zufrieden. Er nahm in dem halb gefüllten Saal Platz und betrachtete erstaunt die gewagte Deckenkonstruktion des Raumes, ein in die Höhe gewuchteter, umgekehrter Schiffskörper. Er versuchte, sich auf den Vortrag zu konzentrieren. Faust blickte ihn immer wieder an. Mit zunehmender Neugier, wie Velsmann sich einbildete, so als ginge ihm seine Fahrstuhl-Frage nicht mehr aus dem Kopf.
Dr. Faust referierte. Velsmann merkte jedoch, dass er nicht an den Punkt kam, der sein Interesse wirklich weckte, er war deshalb nicht hochkonzentriert. Seine Gedanken schweiften immer wieder ab. Die Stimme des Referenten war monoton, er blickte nie auf. Einer der Wissenschaftler, dachte Velsmann, die ihr Publikum verachten, oder sich vor ihm fürchten.
»Seit Jahrhunderten«, legte Faust gerade dar, »leben die Sagen vom Rhein in den Mauern der Burgen und Schlösser. Sie sprechen tiefe Gefühle an, Sehnsüchte ganzer Generationen. Darin fehlen nicht die Wesen aus Nacht und Finsternis, zweifelhafter Abkunft sie alle, Kontrahenten der Edlen, der Ritter, Kirchenmänner und Edelleute. Der Teufel selbst tritt, wenn auch in Tarnkleidung, auf; das umschattete Bergweibchen hilft der verzweifelten Magd, und eine waschechte Rheinnixe, Schwester der berühmten Loreley, betört den Ritter in einer wehmütigen Romanze mit tragischem Ende …«
Velsmann machte sich an dieser Stelle Notizen, um später zu fragen, um welche Sage es sich handelte.
»… Überwiegend finden wir Liebesgeschichten, die – im Gegensatz zu Märchenstoffen – meist traurig enden. Der edle Mensch jener fernen Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat, hatte für das einfache Leben zu hohe Ideale …«
Das trifft auf Clemens zu, dachte Velsmann. Und sicher auch auf seine Romantikerfreunde.
»… Der Rebensaft dieser gesegneten Landstriche spielt auch seine gebührende Rolle. Im Übermaß genossen, verführt er die Bösewichte zu grausamen Handlungen, er vermenschlicht die von Machthunger und engstirnigen Weltanschauungen geschüttelten Protagonisten oder stiftet Träumereien. Und selbstverständlich ist auch die Landschaft wichtig, mit diesem Strom, der sich damals noch smaragdgrün zeigte …«
Der Fluss ist schmutzig geworden, dachte Velsmann, beinahe schon eine Kloake. Muss das so sein? Kann man dagegen nichts tun? Ist es ein Verhängnis, aus dem wir uns nicht befreien können? Eine einzige scharfe Abwässerverordnung könnte doch genügen, um den Zustand zu ändern!
»… Die Gegenden links und rechts des Rheins«, fuhr der Referent fort, »den die Deutschen so verehren wie die Inder den Ganges, sind historische Durchgangsräume von ganz besonderer Bedeutung. Viele Völker haben ihnen ihren Stempel aufgesetzt …«
Und die rheinreisenden Dichter, dachte Velsmann. Sie haben den romantischen Rhein doch anscheinend überhaupt erst erfunden.
»… Deshalb will die Sage immer historisch glaubwürdig sein. Ihre Stoffe
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