Die verzauberten Frauen
seines schweren Körpers. Velsmann sah ihm nach. Er hörte ihn zur Linken davongehen, in Richtung eines Pavillons am Ende des Weges. Von dort führten Stufen den Berg hinab, vielleicht zu einem zweiten Parkplatz. Velsmann setzte sich wieder auf seinen Stein. Er wollte das Pergament noch einmal lesen, aber jetzt schob sich eine Wolkenwand vor den Mond. Ideales Loreley-Licht, dachte Velsmann, ein Licht für Sagenphantasien.
Er sah auf das erleuchtete Ziffernblatt seiner Armbanduhr, es war halb elf. Ich muss nach Hause, dachte er. Sofort.
Langsam ging er zum Auto zurück.
Die Frau, die sich umgebracht hatte, fiel ihm plötzlich ein. Das gehört doch zusammen, dachte er. Oder war auch sie ermordet worden?
Ich sollte das Ganze lassen, dachte er. Es gibt zu viele blinde Stellen. Eine Mahnung mit Stockflecken. Und es gibt zu viele Sackgassen in diesem Irrsinn. Es ist sowieso nicht mehr aufklärbar.
Im Auto schaltete er das Innenlicht an. Er las den Text noch einmal. Danach wusste er, es ging ihn tatsächlich etwas an. Und sei es auch nur deshalb, weil die Worte ihn unwiderstehlich in den Bann zogen.
Draußen war es stockdunkel geworden. Die Nacht lag wie ein schwarzes Tuch vor den Autofenstern.
Velsmann las den Text noch einmal. Und er berauschte sich an der sanften Gewalt seiner Sätze.
Sind wir nicht ein Spiegel der einfachen Seelen, die im Wunsch und in der Sehnsucht nach Liebe verharren? Erlangen wir wirkliche Freiheit nicht nur als vollkommene Vereinigung mit Gott in der Liebe? Die befreite Seele benötigt kein Menschenwerk. Nur die Liebe zu Gott. Begreift dies als Mahnung an die Menschen: Liebet einander, um nicht Christus zu verraten. Und nehmt dieses Wort als Verheißung. Nehmt es als Buch, innen und außen beschrieben. Wenn ihr nicht innehaltet, dann wird dieses Buch versiegelt bleiben. Und ihr werdet dem Untergang nicht entgehen. Und wer zwischen den Ältesten ein Lamm stehen sieht, wie geschlachtet, das sieben Hörner und sieben Augen hat, dem sendet der Herr seine Geister, sendet sie in jedes Land. Öffnet das Buch nur, um daraus zu lernen. Wer nicht lernen will, soll es verschlossen lassen, so es mit allem verderbe. Wer aber auf den richtigen Weg der Menschen zurückfinden will, der soll es kenntlich machen, und das Buch auftun mitsamt seinen sieben Siegeln. Oder du wirst geschlachtet oder bist bereits geschlachtet wie das Osterlamm. Und hast mit deinem Blut Menschen für Gott erkauft, aus allen Stämmen und Sprachen und Völkern und Nationen. So wird es sein im Jahr des Herrn 53, im Jahr des Herrn 1346, im Jahr des Herrn 1648, im Jahr des Herrn 1777, im Jahr des Herrn 1801, im Jahr des Herrn 1946, im Jahr des Herrn 1961, im Jahr des Herrn 1983, im Jahr des Herrn 2012. Und dann nicht mehr.
»So geht es nicht«, sagte Andrea. »Das ist eine Beleidigung. Wir sind frisch verheiratet. Hältst du das für einen Fehler?«
»Nicht grundsätzlich«, sagte Velsmann widerspenstig. Er wollte möglichst ohne Schuldgefühl durch dieses Gespräch kommen. »Aber manchmal gibt es Dinge, die Vorrang haben. Du und ich, wir haben noch ein ganzes Leben lang Zeit.«
»Da irrst du dich, mein Lieber. Ich habe beschlossen, nach Kiel zu gehen. Ich brauche etwas, das mir gehört. Ich will mich selbst spüren. Ich muss mich austesten.«
»Das sind doch nur Sprüche aus irgendwelchen Büchern«, sagte Velsmann. »Du gehörst dahin, wo ich bin. Und ich muss hier sein, um Geld zu verdienen. Übrigens für uns beide.«
»Das ist es ja gerade. Du gibst alles vor. Was wäre, wenn ich in Braunschweig oder Nürnberg Geld verdienen würde? Würdest du ohne weiteres dorthin ziehen?«
»Weiß ich nicht«, gab Velsmann zu. »Es wäre zumindest eine ganz andere Situation. Niemand ist irgendwo, weil die Landschaft so hübsch ist, sondern weil es ums Überleben geht. Prinzipiell kann man überall leben.«
»Ich mache meine Ausbildung zur Unterwasserbiologin. Das geht leider nur in Kiel. Dann sehen wir weiter.«
»Das heißt, wir sind mindestens zwei Jahre lang getrennt!«
»Auch jetzt leben wir schon getrennt, mein Lieber. Du bist nie zu Hause.«
Velsmann spürte, dass seine Verteidigung lahmte. Was hatte er tatsächlich anzuführen, um seine Fahrten am Wochenende in den Rheingau zu rechtfertigen? Kindheitserinnerungen!
Nein, es war eine Flucht. Wie die von Achim von Arnim an die ferne Front im Osten.
»Ich bin da an einer Sache dran, die mir wichtig erscheint. Ich glaube –«
»Hier ist unser Lebensmittelpunkt! Hier in Fulda!
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