Die verzauberten Frauen
Spurensucher in Plastikanzügen wahr, die sich so vorsichtig bewegten, als stünden sie unter Schock. Er ging zu Küchler, dem die langen blonden Haare auf der Stirn klebten.
»Wer kam als Erster her?«, fragte er.
»Der Kollege von der Streife da drüben. Er wurde durch unsere Notrufzentrale informiert, Schwan und ich trafen gleichzeitig ein, Amendt und Pfedder waren kurz vor uns gekommen.«
»Sagen Sie dem Kollegen, er soll draußen im Einsatzwagen warten und sich einen Kaffee geben lassen.«
Der Leiter der Spurensicherung kam näher und sagte: »Wir untersuchen jeden Zentimeter, in diesem Raum gibt es merkwürdige Segmentierungen.«
»Was meinen Sie damit, Kollege Spengler?«
»Weiße Kügelchen, Substanzen, wie feuchtes, hart gewordenes Papier.«
»Wir haben gerade mit ihrem Sohn telefoniert«, sagte Pfedder von Weitem. »Er macht sich sofort auf den Weg.«
»Was sagt er?«, fragte Velsmann.
»Alles undenkbar. Sie lebte allein und hatte absolut keine Feinde.«
»Na, einen wohl doch«, murmelte Velsmann.
Der Gerichtsmediziner tauchte vor Velsmann auf. Er sah noch immer unfassbar gesund und hoch motiviert aus. »Irgendwann wird es etwas geben, um über das Erbgut von Opfern ihre Identität zu ermitteln«, sagte er. »Im Moment müssen wir noch auf eine Gegenüberstellung bestehen. Die Nachbarn stehen bereit.«
»Fangen Sie an«, bat Velsmann.
Er ging langsam in Richtung der Toten, dorthin bewegte sich auch ein zerknautschtes Ehepaar in gestreiften Morgenmänteln.
Velsmann sah, dass die Frau den Kopf schüttelte. Sie begann zu schluchzen und schlug die Hände vors Gesicht. Der Mann wurde von Dr. Claus zu der aufgespannten Menschenhülle geführt. Er betrachtete sie halb abgewendet, wie missbilligend. Dann nickte er.
»Ich glaube schon, dass sie es ist«, flüsterte er.
»Sie glauben es?«
»Ich bin – sicher.«
»Was macht Sie sicher?«, wollte der Arzt wissen.
Der Nachbar deutete auf eine Hautpartie, wo sich einst der Hals befunden hatte und jetzt ein schlaffer, farbloser Lappen herabhing. »Da. Ein Muttermal. Wie ein Halbmond.«
»Aha.«
Ein Hass, dachte Velsmann, der ausreicht, um jemanden über Stunden hinweg auszuweiden, in beharrlicher Arbeit, rasend und doch gefasst. Das ist doch undenkbar. Welches Motiv war dafür stark genug?
Pfedder musste etwas Ähnliches gedacht haben. Er war neben Velsmann getreten und nickte, wie zu einem unsichtbar bleibenden Gesprächspartner. »Das Ganze hier, meinen Sie nicht, das Ganze muss in Regionen reichen, die wir uns im Moment nicht annähernd vorstellen können.«
»In Abgründe«, bestätigte Velsmann. »Schluchten von Jahrhunderten. Berge und Täler und unten ein reißender Strom, der niemals versiegt.«
»Wenn Sie nicht aufhören in Rätseln zu sprechen, feuere ich Sie, Velsmann!«
»Wie wollen Sie«, erwiderte Velsmann, »das hier anders fassen als mit Metaphern? Erklären Sie mir das! Das ist ein Tatort, wie wir ihn in Fulda noch niemals hatten. Das hier ist kein Mord, der Ausdruck ist doch viel zu schwach. Das hat die Dimension einer Apokalypse. Stimmen Sie mir zu?«
»Gewissermaßen«, erwiderte Pfedder kleinlaut.
»Was könnte diese Frau getan haben, um beim Täter eine derartige Explosion an Hass hervorzurufen?«
»Sagen Sie es mir, Inspektor«, murmelte Pfedder schwach.
»Ich sage es Ihnen, Kriminalrat Pfedder. Es ist etwas, das einen ganz langen Anlauf genommen hat. Etwas, das ungefähr zwei Jahrhunderte brauchte, um seine Energien zu sammeln, das zurückgehalten wurde, sich neu aufbaute, das Zeit genug hatte, um immer gewaltiger zu werden und dann in einem einzigen Moment explodierte.«
»Sprechen Sie von einem einzigen Täter – oder von …«
»Ich spreche von negativen Energien. Mehr weiß ich im Moment doch auch nicht.«
Pfedder blickte sich um. »Wo sind ihre Sachen?«, fragte er in einem nüchternen Tonfall.
»Das habe ich mich auch schon gefragt. Der Mörder muss sie ausgezogen haben, bevor er sie schlachtete.«
»Vielleicht im Schlafzimmer.«
Sie gingen nach nebenan. Auch in diesem Raum mit einem großen Doppelbett in der Mitte wimmelte es von Spurensuchern. Velsmann sprach mit dem Leiter der Spurensicherung. Man hatte auf dem Bett einen Pyjama gefunden, die übrige Kleidung im Bad.
»Können Sie bei all den Hinweisen schon was zum Tathergang sagen, Spengler?«
»Zur Abfolge. Der Täter hat sein Opfer vermutlich im Schlaf überrascht, Tatzeit also vermutlich nach Mitternacht. Er hat sie erstochen,
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