Die verzauberten Frauen
Bruder des Königs, der dem alten Glauben anhing, ließ Bartholomäus daraufhin fangen und auf eine Bank binden. Dann zog er ihm bei lebendigem Leib die Haut ab. Auf seine noch blutige Haut schrieben die Priester des alten Glaubens ihre Bekenntnisse, eben jene Prophezeiung, die das Ende der Welt in zweitausend Jahren vorhersagt. Christen begruben den Leichnam des Märtyrers, die Mörder fielen der Besessenheit anheim und starben. Das ist alles.«
»Kluges Mädchen«, sagte Velsmann. »Sicher haben Sie das alles von Ihrem Freund.«
»Ich habe keinen Freund«, erwiderte sie.
»Lesbe?«, wollte er wissen.
»Und wenn schon?«
»Ja, in Ordnung«, sagte er.
»In Wahrheit habe ich mich noch nicht entschieden«, sagte sie.
»Lassen Sie sich Zeit«, sagte er.
»Eben, es eilt ja nicht.«
Sie waren angelangt. Vor ihnen lag die Pforte der Festung. Wenn der gewaltige Bau als Archiv benutzt wurde, musste eine stattliche Anzahl von Geheimnissen wie ein schweres Gewicht die Geschichte der Deutschen belasten.
»Ich habe das Gefühl, Sie haben mir noch nicht alles gesagt«, meinte Velsmann, der schwer atmete.
»Deshalb müssen Sie aber nicht so aufgeregt sein«, sagte Breitenbach.
»Ich bin nicht aufgeregt. Ich bin nur das Steigen solcher Höllentreppen nicht gewöhnt.«
Breitenbach fixierte den Eingang der Feste mit zusammengekniffenen Augen. »Die Menschenhaut des Märtyrers mit der Prophezeiung verschwindet. Später taucht sie wieder auf, erst in Persien, dann in Ägypten, später in Rom. Den Christen gilt sie als heiligste Reliquie, um sie werden Kriege geführt. Eine Zeit lang ist sie im Frankfurter Dom zu sehen, wohin sie Kaiser Friedrich II. im Jahr 1238 zusammen mit der Hirnschale des Märtyrers bringt. Der Dom erhält seinen Namen von Bartholomäus, der Märtyrer ist seitdem Patron und Schutzheiliger von Frankfurt am Main und des Klosters Eberbach.«
»Tatsächlich?«
»Und übrigens auch der Lederarbeiter, Gerber, Schuhmacher und Buchbinder. Die abgezogene Haut wird mehrfach geraubt, irgendwann in den Wirren der Geschichte wird die Prophezeiung auf der Menschenhaut von Unbekannten in den Bleisarg mit den sterblichen Knochen des Märtyrers gelegt, wahrscheinlich am Bodensee, und strandet bei Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges, also 1618, im Ort Rheinhardshof, von wo die Mönche des Klosters Eberbach ihre Weinfässer in alle Welt verschiffen. Können Sie mir folgen? Sie sind so blass!«
»Ich folge Ihnen, wohin Sie wollen! Aber um Himmelswillen, erzählen Sie mir den Rest!«
»Warum denn? Wir müssen doch jetzt –«
»Kollegin Breitenbach! Ich entlasse Sie, wenn Sie jetzt mit der Geschichte aufhören!«
»Gut, gut! Der Legende nach erschien Bartholomäus als Geist irgendwann im 14. Jahrhundert den Zisterziensern in Eberbach und verkündete ein Strafgericht und den Tod der Welt im Jahr 2012, wenn die Menschen nicht zu den christlichen Werten zurückfinden würden und die Schöpfung achteten!«
»Über sieben Brücken musst du geh’n, sieben dunkle Jahre übersteh’n«, ächzte Velsmann.
»Karat«, sagte Breitenbach, »in diesem Jahr nachgesungen von Peter Maffay.«
»2012 wie?«, stieß Velsmann hervor. »Warum haben Sie mir das nicht gleich gesagt!«
»Was meinen Sie?«
»Kollegin Breitenbach! Sie hantieren hier achtlos mit Fakten, die mich umbringen könnten!«
»Ach, kommen Sie!«
»Begreifen Sie wirklich nicht, dass in Ihrer Story die Lösung all dessen liegen könnte, worüber ich mir seit Tagen, ja seit meiner Kindheit das Gehirn zermartere?«
»Aber entschuldigen Sie! Sie sind doch mein Vorgesetzter! Deshalb nahm ich natürlich an, Sie wüssten das alles!«
»Ich bin nur ein kleiner Inspektor, der verhängnisvollerweise einmal als Junge durch das Kloster Eberbach getappt ist und dort Stimmen in den dicken Mauern flüstern hörte!«
»Dann sage ich Ihnen noch etwas. Und dann gehen wir hinein, ist das in Ordnung?«
»Ja!«
»Auf Michelangelos Jüngstem Gericht in der Sixtinischen Kapelle in Rom gilt das Antlitz auf der von Bartholomäus in Händen getragenen Haut als Selbstbildnis des Künstlers. Darunter ist die von Hand eingeritzte Prophezeiung der armenischen Mörder des Märtyrers deutlich zu erkennen – wenn natürlich auch nur bruchstückhaft zu lesen, einwandfrei jedoch das Datum 2012. Wir können uns das Bild einmal ansehen, natürlich als billigen Kunstdruck, wenn Sie zu mir kommen und wir eine Tasse Kaffee zusammen trinken.«
»Haben Sie denn Tassen?«
»Ja, im
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