Die verzauberten Frauen
Seite.«
»Eine dieser neuen Richtungen, die uns die Hippies beschert haben, mit Bauchgefühl und Sitarmusik?«
»Aber nein! Obwohl das genauso schlimm ist. Nein, Frau Kessler glaubte an Martin Luther. Vielleicht könnte man sagen, sie war eine Begine, Sie wissen, diese seltsame Bewegung liebender Frauen, die sich in die Vorstellung verrannt haben, sie hätten einen ganz persönlichen, einen weiblichen Draht zum Schöpfer.«
»Kennen wir«, unterbrach ihn Breitenbach. »Wann haben Sie Frau Kessler zum letzten Mal gesehen?«
»Ich muss überlegen«, sagte Sennsler und strengte sich offensichtlich an, ein dazu passendes Gesicht zu machen. »Ach ja, da fällt es mir ein. Vor genau achtzehn Monaten. An ihrem vorletzten Arbeitstag im Archiv. Gegen fünf.«
»Danach nicht mehr?«
»Nein.«
»An ihrem vorletzten Arbeitstag? Nicht am letzten?«
»Ist das wichtig?«
»Vielleicht«, sagte Velsmann.
»Sie nahm an ihrem letzten Tag frei. Warum, das müssen Sie unseren Personalchef hier fragen.« Sennsler deutete mit einer Geste zu einem der Herren.
»Ich habe nachgesehen. Ein Arzttermin. Frau Kessler hatte aber so viele Überstunden angehäuft, das war kein Problem«, antwortete der Personalchef beflissen.
»War sie krank?«
»Nein. Eigentlich nie.«
»Sie fuhr jeden Morgen von Fulda nach Koblenz und abends wieder zurück?«
»Soweit ich weiß, ja.«
»Wie war sie an ihrem letzten – also am vorletzten – Arbeitstag? Fiel Ihnen irgendetwas besonders auf?«
»Es ist achtzehn Monate her!«, betonte der Personalchef.
»Ja, tatsächlich, mir fiel etwas auf«, sagte Sennsler.
Die Blicke aller Anwesenden flogen in seine Richtung.
»Und was?«, fragte Velsmann.
»Sie stöberte in dieser Akte hier.«
Er schob Velsmann einen grünen Schnellhefter über den Tisch. Breitenbach schnappte ihn.
»Fundstücke Kloster Eberbach, 11. September 1961, und ein Aktenzeichen«, las sie und schlug den Deckel auf.
»Zeigen Sie mal«, sagte Velsmann. »Ich war zu der Zeit zu Besuch im Kloster. Handelt es sich um diese Grabbeigaben?«
»Offensichtlich«, sagte Breitenbach.
Velsmann studierte die eng beschriebenen Seiten flüchtig.
»In der Auflistung fehlt, soweit ich sehe, das Pergament mit der Handschrift Brentanos«, sagte er.
»Die Akte ist vollständig«, sagte Sennsler lächelnd. »Da fehlt nichts. Frau Kessler hat sie ja abgezeichnet. Sehen Sie am Schluss nach.«
»Tatsächlich«, sagte Velsmann. »Das ist merkwürdig. Das Pergament wurde nämlich dem Brentanohaus kürzlich angeboten.«
Einer der Herren sprang auf und stützte sich mit den Händen auf den Tisch. »Ist das wahr? Wie konnte das passieren?«
»Wieso?«, wollte Velsmann wissen. »Ich denke, dieses Papier gab es als Teil der Akte nie?«
Sennsler leckte sich die Lippen. »Sehen Sie, das ist eine heikle Angelegenheit, und ich bitte Sie, nicht gleich falsche Schlüsse aus dem Gesagten zu ziehen. Wir sind natürlich im Besitz dieses Fundstücks gewesen, aber die Polizei, Ihre Kollegen in Koblenz, haben es seit der Untersuchung in Gewahrsam. Und wir sind verpflichtet, strengstes Stillschweigen zu bewahren.«
»So ist es«, sagte Busch von der Kripo Koblenz. »Ich kann Sie später in diesen Punkt einweihen, Herr Kollege.«
»Gut, das ist jetzt auch nicht so wichtig. Im Moment steht der Mord in Fulda im Mittelpunkt der Ermittlungen. Was fällt Ihnen noch zu Frau Kessler ein?«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie Feinde hatte! Mein Gott, sie war so nett, so –«
»Das wissen wir schon, Herr Sennsler«, unterbrach ihn Karen Breitenbach. »Aber sie ist nun mal auf eine grauenhafte Art und Weise ermordet worden. Die Frage stellt sich also, wer mit ihr so verfeindet war, dass er die Tat begangen haben könnte – und warum?«
»Es gibt keinen Grund, eine solch liebenswerte Kollegin zu ermorden, glauben Sie mir«, sagte Sennsler.
Velsmann wurde das Gefühl nicht los, der Angestellte der Asservatenkammer meinte das, was er sagte, nicht so ernst, wie es klingen sollte. Er beobachtete sie.
»Hat einer der anderen Herren eine Hypothese?«, fragte Breitenbach.
Man schwieg.
»Also, Sie hätten wirklich nicht zu fünft aufmarschieren müssen, wenn Sie nichts zu sagen haben«, blaffte Breitenbach. »Oder wollen Sie kontrollieren, dass niemand der Eingeweihten etwas ausplaudert?«
Der Mann mit den weißen Haaren hob die Hand wie ein Schüler. Als Velsmann ihn ansah, bemerkte er, dass seine Gesichtszüge jugendlicher wirkten, als es zuerst den
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