Die verzauberten Frauen
wusste Laila.
»Warum willst du bei der Hitze unbedingt auf den Berg, Papa?«, fragte Tibor.
»Man hat eine tolle Aussicht von dort oben. Und es gibt einen Stand mit ultracoolen, krass angesagten Hipp-Getränken, die Flügel verleihen.«
Laila kicherte. Tibor hielt sich die Ohren zu. Andrea strich sich über die feinen Fältchen unter den Augen.
»Was hast du eigentlich damit gemeint, Mama, deine Phase der Emanzipation sei beendet?«, wollte Laila wissen.
»Ich will einfach nur noch mit euch zusammen und zu Hause sein«, antwortete Andrea ohne Nachdenken. »Wir sind genügend davongelaufen, nach überallhin geflohen, wo nicht der Ehemann und nicht die Kinder waren, wir haben das Land alleingelassen, und eigentlich haben wir nicht genug geliebt.«
»Jetzt übertreibst du«, sagte Laila. »Wir waren in Rostock doch zusammen.«
»Ja, äußerlich«, sagte Andrea. »Aber oft mit schlechtem Gewissen, weil man sich für spießig hielt. Außerdem war euer Vater nicht dabei.«
»Eure Probleme haben wir nicht«, sagte Tibor. »Nie gehabt. Euer Weltende interessiert uns nicht, und wir haben nie geglaubt, uns emanzipieren zu müssen.«
»Weil wir euch das abgenommen haben«, sagte Andrea. »Ihr hättet mal in den Siebziger- oder Achtzigerjahren leben sollen! Da musste man seine Eltern vorher fragen, wenn man etwas sagen wollte.«
»Echt?!«, wollte Laila wissen.
»Ja, echt«, wollte Andrea ihrer Tochter weismachen.
»Ihr habt jedenfalls viel zu viel nachgedacht«, behauptete Laila. »Das ist heute ganz anders. Man muss einfach nur machen, was man will, was einem Spaß macht.«
»Das ist gut«, sagte Velsmann. »Das hat mich gerettet. Ihr habt mich gerettet.«
Andrea legt ihre Hand auf sein Knie und lächelte ihm zu. Velsmann starrte mit brennenden Augen geradeaus. Sie schwiegen einen Augenblick und hingen ihren Erinnerungen an eine dunkle Zeit nach.
Laila riss sie aus ihren trüben Gedanken: »Ich will nach Köln auf die neue Modeschule. Habt ihr was dagegen?«
Andrea drehte sich zu ihrer Tochter um. »Das höre ich ja zum allerersten Mal!«
»Ich habe mich erkundigt. In Köln gibt es die meisten und die besten Schulen. Und die neue ist die allerbeste.«
»Ich dachte, wir bleiben zusammen?«, ließ sich Velsmann mit einer Stimme vernehmen, in der Verunsicherung lag.
»Ja, erst mal. Aber ich krieg’ in Eltville keine Ausbildung zur Modedesignerin.«
»Du kannst zu Hause wohnen und in Köln studieren«, meinte Tibor. »Ich wohne ja auch in Eltville und mache meine Unternehmensberatung vom heimischen Computer aus. Das geht.«
»Mal sehen«, sagte Laila ausweichend. »Wann sind wir da?«
»Wo da?«, fragte Andrea nach.
»Na, da, wo ihr hin wolltet.«
»Da sind wir schon die ganze Zeit«, sagte Velsmann. Er deutete mit einer ausholenden Geste auf die Landschaft. »Das Welterbe. Mittelrhein. Früher dachte ich, es könnte hier eine Verschwörung geben. Ich dachte, in allen diesen Höhenburgen säßen Vertreter eines geheimnisvollen Ordens und hielten das ganze Land in Schach. Ich war kurz davor, für alle diese Burgen Hausdurchsuchungsbefehle zu erwirken.«
»Für diese Hirngespinste hast du ja dann genug bezahlt!«, sagte Andrea weich.
»Und doch«, fügte Velsmann hinzu. »Es war ein faszinierender Gedanke. Damals schien er mir völlig plausibel.«
Andrea blickte ihn misstrauisch an. »Sag mal, du fängst doch nicht wieder damit an?«
»Nein, das ist vorbei, glaub mir. Ich bin geheilt. Das habe ich mit dem Ende meines Dienstes abgestreift.«
Velsmann näherte sich der Loreley. Plötzlich überfiel ihn ein ungutes Gefühl. Er hatte keine Lust, auf diesen Berg zu steigen.
Er wendete den Kopf und sagte bestimmt: »Loreley fällt aus. Zu anstrengend. Aber ich habe später noch eine Überraschung.«
»Umso besser«, flötete Laila.
Andrea legte ihrem Mann die Hand auf den Arm. Der gab Gas. Laila fing wieder an zu singen. Tibor konnte sich nicht die Ohren zuhalten, weil er mit beiden Händen sein Handy bedienen musste. Zur Linken glänzte das Wasser des Rheins, sein vielbesungener Goldschatz lag schaukelnd obenauf. Wenig später bog Martin Velsmann in das idyllische Wispertal ein. Er beschleunigte noch einmal und fuhr die vielen Kurven rasant.
»Mir wird schlecht«, sagte Laila.
»Du fährst zu schnell«, mahnte Andrea. »Sollen wir anhalten, Laila?«
»Ja.«
Velsmann bremste und fuhr an die Seite. Laila sprang aus dem Auto und musste sich an einem Baum übergeben. Ihre Mutter hielt ihr den
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