Die vierte Schlinge: Thriller (German Edition)
Zunge und wird wie dieses hier fast immer bei einer Strangulation gebrochen.
Danach setzte sie die verschiedenen Wirbel an die richtige Stelle – der Atlaswirbel, der die Welt, in diesem Fall den Schädel, trägt, der Axis, der die Drehung des Kopfs ermöglicht. Im Folgenden rekonstruierte sie Wirbelknochen für Wirbelknochen die gesamte Wirbelsäule: die Hals-, Brust- und Lendenwirbel, das Sacrum und das Steißbein. Es folgten die Rippen, Schultern, das Becken, die Röhrenknochen, die Finger und Zehen.
Blau hatte starke weiße Knochen. Der innere Rahmen ihres Körpers wies nun, da alles faule Fleisch verschwunden war, eine gewisse Schönheit auf.
Diane begann ihre Detailuntersuchung mit dem Becken. Dies war der Knochen, den man für eine verlässliche Geschlechtsbestimmung des Individuums benötigte. Lynn Webber hatte bereits festgestellt, dass es sich bei Blau um eine Frau handelte. Diane konnte das nun mit Hilfe des Beckens bestätigen.
Blau hatte schmale, fast androgyne Hüften – sie waren kaum breiter als bei einem Mann ihres Alters. Diane fuhr mit dem Daumen die feine Linie entlang, die die Verbindung des Beckenkamms mit dem Hüftbein kennzeichnete. Diese Verschmelzung der Epiphysen findet irgendwann zwischen dem fünfzehnten und dreiundzwanzigsten Lebensjahr statt. Der entsprechende Vorgang war bei diesem Skelett noch nicht zum Abschluss gekommen.
Sie drehte das Becken in der Hand hin und her und untersuchte es nach besonderen Kennzeichen oder Eigenheiten. Es waren keine zu finden. Keine Waffenspuren, kein Anzeichen für eine Verletzung oder Krankheit. Blau schien auch niemals schwanger gewesen zu sein oder gar ein Kind geboren zu haben, obwohl die Belastung des Beckens durch eine Schwangerschaft oft nicht gleich zu sehen ist. Der gratige, rauhe Zustand der Schamfuge deutete auf ein Alter von achtzehn oder neunzehn Jahren hin, was mit der Verschmelzung der Epiphysen übereinstimmte. Sie war also noch sehr jung gewesen.
Diane vermaß dann alle wichtigen Knochen und trug die Ergebnisse in eine vorbereitete Liste ein. Bisher hatte sie nichts gefunden, womit sie diese Frau hätte identifizieren können. Aber sie hatte auch kaum erwartet, dass dafür das Becken hilfreich sein würde.
Als Nächstes begann sie mit der Untersuchung des Schädels. Der Unterkiefer war nun, da alle Sehnen und Muskeln verschwunden waren, von ihm getrennt. Sie hob den Schädel hoch und betrachtete ihn genau. Blaus Zähne waren noch alle intakt, sie hatte einen leichten Überbiss, eine glatte hohe Stirn, schmale Backenknochen, ein spitzes Kinn – und eine operierte Nase.
Der so genannte Nasenstachel, der unterhalb der Nasenöffnung die Nase quasi abstützte, war operativ verändert worden. Außerdem war ein Teil des Nasenbeins entfernt worden. Sie hatte sich also einer größeren Nasenkorrektur unterzogen.
Diane erfüllte eine gewisse Genugtuung. Ein Schritt auf dem Weg zur Identifizierung von Blau war gemacht.
Sie vermaß nun äußerst sorgfältig die kraniometrischen Punkte auf dem Schädel, bis sie quasi eine mathematische Beschreibung des gesamten Gesichts fertiggestellt hatte: dessen Länge, Breite, die Maße jedes charakteristischen Merkmals und die Entfernungen zwischen den prägenden Gesichtszügen. Es war das schmale Gesicht einer weißen Frau.
Danach suchte Diane jeden Knochen von Blau nach Zeichen von verheilten Brüchen, Krankheiten, pathologischen Veränderungen, Messerstichen oder von einer Kugel hervorgerufenen Absplitterungen ab. Außer den abgeschnittenen Fingerspitzen und dem durch das Erhängen zersplitterten Zungenbein gab es keinerlei für eine Diagnose wichtige Spuren.
Nachdem sie Geschlecht und Rasse endgültig festgestellt hatte, vermaß Diane mit dem Knochenmessbrett einige von Blaus Röhrenknochen. Die Größenverhältnisse der einzelnen Knochen zueinander sind bei allen Menschen relativ gleich. Wenn man also die Länge eines Röhrenknochens mit den für die jeweilige Rasse und das entsprechende Geschlecht geltenden allgemeinen Größentabellen abgleicht, gelangt man zu einer ziemlich genauen Schätzung der Körpergröße des untersuchten Individuums.
Blau war eine ein Meter fünfundsechzig große Frau, eigentlich eher ein Mädchen, wahrscheinlich zwischen achtzehn und dreiundzwanzig Jahre alt, aber auf keinen Fall älter. Sie war bei guter Gesundheit und hatte einen kräftigen Körper, was die markanten Muskelansätze bezeugten. Die Abschrägung an der Gelenkpfanne ihres rechten Schulterblatts
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