Die Visionen von Tarot
bald wird es schal und ist dann nicht mehr gut genug, die Tiere zu tränken. Andernfalls kämen mehr Herden hierher, denn das Wasser ist kostbar.“
„Ja, in der Tat“, stimmte Bruder Paul ihm zu. „Ich würde gerne schwimmen gehen.“
„Schwimmen?“
Jesus war verdutzt.
„Mein Volk lebt am Wasser“, erklärte Paul. „Wir schwimmen gerne. Du nicht?“
Verlegen zuckte Jesus die Achseln. „Ich kann nicht schwimmen.“
Ein Gebirgler, nicht an tiefes Wasser gewöhnt. Nun, zu Bruder Pauls Zeiten konnte die Hälfte der Menschen nicht schwimmen, und die Bedingungen hier waren wahrscheinlich schlechter. „Ich würde mich freuen, es dir zeigen zu können.“
Jesus dachte nach. „Wie ich schon sagte, hier sind Ruinen, vermutlich von einem heidnischen Tempel. Jetzt sind sie von Wasser bedeckt, aber wenn dir dein Glaube verbietet, sich ihnen zu nähern …“
„Ich erkenne deine Warnung an“, sagte Bruder Paul. „Aber mein Glaube kann kaum durch eine heidnische Ruine vergiftet werden. Vielleicht hatte Hesekiels viergesichtiger Besucher hier ein Haus. Das würde meinen Glauben stärken, weil es die Bestätigung der Beschreibung in der Schrift bedeuten würde.“
Jesus lachte. „Der, der sich erhöht, wird erniedrigt werden, und der, der sich erniedrigt, soll erhöht werden. Ich bin nicht sicher, in welche Kategorie du hineinpaßt.“
„Es ist keine Schande, schwimmen zu gehen“, meinte Bruder Paul. „Es ist eine nützliche Fähigkeit, falls man einmal einen Schiffbruch erlebt. Es wäre dumm zu ertrinken, wenn einen ein wenig Vorbereitung davor bewahren kann.“ Natürlich – der richtige Jesus war über das Wasser gegangen, wenn das auch eine Illusion gewesen sein mochte. An heißen Tagen sah man in Hohlwegen Bilder wie von Wasser, und es spiegelten sich sogar nahe gelegene Objekte darin. War Jesus über eine solche Stelle gegangen?
Jesus nickte. „Es steht geschrieben: ‚Wahrlich, kein Mensch kann um sich feilschen oder Gott den Preis seines Lebens bezahlen.’ Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt erränge und nähme doch Schaden an seiner Seele?“
Keine Frage: Das war Jesus, später als Christus bekannt. Wo aber war der Zauber, der die Menschen verführte, ihre Geschäfte fallenzulassen und ihm zu folgen, ihr Leben hinzugeben, um seine Sache zu unterstützen?
„Bist du Schriftgelehrter?“ fragte Bruder Paul vorsichtig. Er benutzte das Wort Bibel nicht, weil sich die Bibel erst im Verlauf der Jahrhunderte herausgebildet hatte, und zu Zeiten Jesu stand der Umfang und genaue Inhalt noch lange nicht fest. Eigentlich war die Bibel anfangs gar kein richtiges Buch gewesen, sondern eine Sammlung kanonischer Schriften, eine religiöse Bibliothek.
Jesus lächelte mit milder Selbstverachtung. „Ich bin noch nicht alt genug, Rabbi zu sein.“
Noch keine dreißig, das Alter der intellektuellen Reife. „Aber du bist fast so alt. Du mußt dein Wissen über die Schrift schon mit anderen diskutiert haben.“ Verführerische Fragen – oh, doch es war ihm wichtig sicherzustellen, wieviel vom Bild Jesu, das die Kirchenhistoriker anboten, der Realität entsprach und wieviel dazugedichtet war. War Jesus wirklich ein großartiger Lehrer gewesen, der im Alter von dreißig Jahren plötzlich zum Leben erwacht war?
„Oh ja, mein Freund Paul, viele Male. Aber meine Landsleute sind Bauern, Schäfer und Fischer. Sie kümmern sich wenig um den Zauber der Schrift und betrachten mich als … müßigen Jungen aus dem Dorf, der fleißig seine Verse lernt.“
„Aber das Alte Testament ist nichts Müßiges.“
Jesus breitete die Hände aus. „Nicht für mich, nicht für dich. Aber was geht es den Bauern an, der sich um Regen und Scholle und Saatgut kümmert? Dort liegt das
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