Die Visionen von Tarot
spiegele sich in meinen Manieren wider.“
„Und ich wurde in einer Scheune erzogen“, warf Bruder Paul ein.
Jesus lächelte und fuhr fort: „Das war in Betlehem, in Judäa, denn meine Familie mußte wegen Volkszählung dorthin gehen, wegen der Steuer. Dann fürchteten sie um mein Leben, denn dem bösen Herodes hatte man erzählt, ein neuer König sei geboren, und er fürchtete seine Absetzung und ließ alle kleinen Kinder umbringen. Es war nur ein Gerücht von irgendwelchen fremden Astrologen, die eine ungewöhnliche Konstellation von Jupiter, Saturn und Mars beobachtet hatten – was normale Leute gar nicht bemerken, aber als einer, der in manch einer klaren Nacht die Sterne beobachtet hat, kann ich dir versichern, daß diese drei niemals so dicht zusammenkommen. Daher wäre es schon erstaunlich, wenn alles stimmte. Aber Herodes hat es ganz schön in Aufregung versetzt. Die Römer nahmen die Sache auf die leichte Schulter, und am Ende wurden nur sehr wenige Kinder getötet, aber meine Familie war doch sehr beunruhigt und mußte deswegen rasch nach Ägypten ziehen. Für meine Beschneidung konnten sie nicht die entsprechenden Vorkehrungen treffen, doch es mußte am achten Tag sein. Das Messer rutschte zu tief, und es gab eine Infektion, und unterwegs konnten sie nicht viel dagegen tun. Daher …“ Er hob den beschädigten Penis einen Moment lang hoch, um die dicke Narbe darauf zu zeigen sowie die nur unvollständig ausgebildeten Hoden. Er war kein Kastrat, aber es war höchst wahrscheinlich, daß er unfruchtbar war, und mit noch größerer Wahrscheinlichkeit war er impotent.
„Das ist aber schrecklich“, meinte Bruder Paul mitfühlend. „In meinem Land gibt es Operationen …“ Aber das war offensichtlich schon dreißig Jahre zu spät. Jesus war mit diesem Mangel zum Mann geworden, Opfer unglücklicher Umstände.
„Ich habe mich schon lange daran gewöhnt“, meinte Jesus. „Immerhin bin ich so niemals in Versuchung geraten, zu sündigen.“ Er runzelte die Stirn. „Aber wenn ich die Freude sehe, die andere bei solchen Versuchungen haben, dann wünsche ich es mir zuweilen auch.“
So waren also auf einen Streich (von einem unsauberen Messer) alle Schlußfolgerungen von Therion nichtig geworden. Jesus hatte das Bedürfnis nach sexueller Betätigung niemals verspürt und war mit Sicherheit keusch. Aber warum, Gott, mußte es auf diese Weise geschehen?
Jesus ging zum Wasser und trat hinein. Seine Füße berührten den Boden: immerhin keine Dummheiten mit Gehen auf dem Wasser.
Nun, also zur Sache. „Schwimmen ist eigentlich eine Angelegenheit des Selbstvertrauens“, sagte Bruder Paul. Er kauerte sich nieder und tauchte unter. Das Wasser war kalt. „Der menschliche Körper ist in den meisten Fällen leichter als Wasser, daher schwebt er. Wenn man darauf vertraut, geht alles andere wie von selber.“
„Man muß glauben“, sagte Jesus.
„Genau das ist es! Durch Glauben werden alle Dinge möglich. Nun zeige ich dir, wie man den sogenannten toten Mann macht.“
Bruder Paul streckte die Hände aus, zog den Kopf ein und stieß sich mit dem Gesicht nach unten ab. Er hielt sich in der Schwebe, indem er heftig mit den Füßen paddelte. Nach einem Augenblick hob er den Kopf und machte heftige Schwimmbewegungen mit den Beinen. „Siehst du, wie leicht es ist? Wenn das ein Toter kann, um wie vieles besser kann es dann ein Lebender?“
Aber Jesus war von der Vorsicht der Menschen, die sich noch niemals zuvor dem Wasser anvertraut hatten. „Ich fürchte, wenn ich das tue, werde ich bald tot sein! Wie atmest du?“
„Nun, das ist der nächste Schritt. Jetzt zeige ich dir das Hundeschwimmen.“
Jesus lächelte und blickte verständnisvoll zu.
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