Die Visionen von Tarot
Waren sie gut zu dir?“
„Sehr gut“, bestätigte Paul. „Aber nicht ganz …“ Er breitete die Hände aus. „Da gibt es immer diesen Schatten, wie ungerechtfertigt er auch sein mag.“
„Ja“, stimmte Jesus ihm zu. „Joseph ist ein guter Mensch und ein guter Zimmermann. War immer gut zu mir trotz …“ Er hielt inne, holte tief Luft, streckte sich und fuhr fort: „Ich bin nicht sein richtiger Sohn. Meine Mutter war vor der Heirat mit ihm schon schwanger. Er wußte es, doch er hat sie nicht von sich gewiesen und auch nicht verlangt, daß sie den Brautpreis zurückgibt. Er hat sie akzeptiert, um ihren Ruf zu schützen, und hat niemals seine leiblichen Kinder mir vorgezogen.“
„Aber du leidest unter dem Stigma“, meinte Bruder Paul mitfühlend.
„Mein ganzes Leben lang! Wenn ich meine Herde gut versorgte, sagen die Dörfler nicht: ‚Das ist ein guter Schäfer, der seine Tiere zu den besten Weiden führt und sie fett werden läßt.’ Statt dessen sagten sie: ‚Der Bastard hat aber Glück gehabt.’ Wenn ich mich in der Schrift hervortue, loben sie mich nicht für meine Gelehrsamkeit, sondern spotten insgeheim über meinen Hochmut. Ich bin der Eindringling, wenn ich das auch niemals habe sein wollen. Ich werde Josephs Werkstatt nicht erben.“
„Die Dummen sind oft grausam“, sagte Bruder Paul. Er hatte nicht gewußt, was für ein brisantes Thema dies sein würde. Ein Bastard zu sein …
„Manchmal werde ich so wütend …“ Jesus schlug mit der Faust in die andere Hand, was einen lauten Knall hervorrief. „Einmal hat mich ein Kamerad halböffentlich verspottet, und ich habe ihn zu Boden geworfen.“ Er schüttelte den Kopf. „Das hätte ich nicht tun sollen. Aber manchmal geht das Temperament einfach mit mir durch. Es steht geschrieben: ‚Jene, die mich ohne Grund hassen, sind zahlreicher, als ich Haare auf dem Kopf trage.’ Aber wenn ich auf diesen Spott eingehe, werde ich ebenso wie sie.“
„Ja“, stimmte Bruder Paul ihm zu. „Um … hättest du etwas dagegen, mir die Quelle dieses Zitats zu nennen? Ich fürchte, ein so gelehriger Schüler wie du bin ich nicht.“ Eigentlich wußte er es genau, wollte Jesus aber schmeicheln. War er ein Heuchler, der hier eine Rolle spielte, um hinter die Geheimnisse des anderen zu kommen?
„Es ist aus dem 69. Psalm“, erwiderte Jesus. „Weiter heißt es: ‚0 Gott, du kennst meine Dummheit, und meine Sünden bleiben vor dir nicht verborgen.’“
„Genau“, sagte Bruder Paul. Doch innerlich war er aufge stört. Das war ein absolut ernsthafter, bescheidener Mensch – weit davon entfernt, Sohn Gottes zu sein. Um ihn lag weder eine göttliche Aura noch eine besondere Atmosphäre. Wie hatte dieser ernste Landmensch eine der wichtigsten Religionen der Weltgeschichte gründen können?
„Ich gehe zu einem besonderen Ort“, sagte Jesus etwas scheu. „Ein alter Tempel, heidnisch, wie ich fürchte, aber sehr geeignet für Meditationen. Wenn du mitkommen möchtest …“
„Gerne“, erwiderte Bruder Paul.
Sie gingen weiter. Die Gegend lag sonderbar tief an einem Berghang, und der Rand war mit riesigen alten Zedern bewachsen, die zu Zeiten Bruder Pauls bestimmt nicht mehr existierten. Der Weg war gut geschützt. Auch war die Gegend kaum bewohnt; nur zufällig würde man auf diesen Ort der Meditation stoßen. Ohne die Bäume war er eigentlich auch kaum der Entdeckung wert.
„Du mußt beim Schafehüten auf diesen Ort gestoßen sein“, vermutete Bruder Paul.
„Ein Schäfer hat viel Zeit zum Umherstreifen“, entgegnete Jesus. „Und zum Nachdenken.“
Unten in der Senke sah Bruder Paul Wasser. „Ist da eine Quelle? Es sieht kühl aus.“
„Es ist keine Quelle“, antwortete Jesus. „Es füllt sich bei Regen auf und trocknet dann wieder aus. Im Moment ist es frisch, aber
Weitere Kostenlose Bücher