Die Visionen von Tarot
gewandet. Ihr Gesicht war verschleiert, und das Gewand bedeckte den Körper vollständig, doch er erkannte ihren pro Vokativen Gang, wie sie die Hüften und die Brust unauffällig, aber typisch weiblich vorschob.
„Sohn der Erde“, sagte sie lächelnd. „Du bist der Grube entkommen, weil du den Pfad der Weisheit gefunden hast. Nur wenige Anwärter auf die Weisheit haben diesen Test bestanden – die meisten sind verschwunden.“ Das erklärte auch, was jenen passierte, die sich dem Abgrund anvertrauten.
„Du stehst unter dem Schutz der Göttin Isis“, fuhr sie fort. Bruder Paul erinnerte sich an die ägyptische Isis, die die Göttin der Liebe sein sollte. „Sie wird dich sicher ins Heiligtum führen, wo die Tugend gekrönt werden soll.“ Tugend unter dem Schutz der Liebesgöttin? Als würde man den Bock zum Gärtner machen! „Ich muß dich noch vor weiteren Gefahren warnen, aber ich werde dir auch helfen, indem ich dir diese heiligen Symbole erkläre, welche dir den Verstand mit unverletzlicher Kraft umhüllen.“ Keine Frage: Amaranth war nun Isis. Diese Rolle paßte zu ihr!
Isis öffnete das Gitter mit einem weiteren verborgenen Mechanismus. Sie nahm Bruder Paul bei der Hand und führte ihn den Gang entlang. Sie bewegte sich nur langsam, fast zögernd, aber selbst dieses Tempo war für ihn zu rasch, um alle Porträts an den Wänden erkennen zu können. Alle Weisheit der Alten lag hier ausgebreitet – und er mußte daran vorbeischießen wie ein ignoranter Tourist!
Aber vielleicht war genau das der Punkt. Er sah sich alles nur an, wollte nichts kaufen. Wenn er unendlich lange hierbleiben wollte, wenn er all ihre Tests bestand, dann konnte er bei jedem Symbol so lange verweilen, wie er nur wollte. Jahre, falls dies notwendig sein sollte.
„Zuerst betrachten wir den Aspekt der Natur“, murmelte Isis. „Hier ist das Krokodil.“ Sie machte eine Handbewegung auf das nächste Bild kurz vor der ersten Sphinx zu. Es zeigte einen ägyptischen Bauern, der an einem Fluß entlangging und zwei Beutel auf der Schulter trug, während ein Krokodil ihn im Wasser verfolgte. „Es symbolisiert die Dummheit.“
Arkan Null des Tarot! Tarot war also doch die Wurzel all dessen hier! Nun besaß er einen ausgezeichneten Bezugsrahmen, und dies erleichterte das Verständnis ungeheuer.
„Der Magus“, sagte sie und deutete auf die Gestalt am anderen Ende der Halle, „der die Fähigkeit darstellt.“ Es war ein ägyptischer Magier, abgesehen von der Kleidung einem Europäer aber sehr ähnlich.
„Verschleierte Isis“, sagte sie und ging zum nächsten Bild weiter. „Unter anderem steht sie für die Erinnerung.“ Und die dargestellte verschleierte Frau war – sie selbst. Er brauchte nicht über die ‚anderen’ Dinge nachzudenken, die sie andeutete. Er dachte an Amaranth in ihrem Landkartenkleid mit den Vulkanbrüsten, Amaranth als nackte Verführung in der Vision der Sieben Kelche. Als Schwester Beth vom Heiligen Orden der Vision, die er zu verführen versucht hatte. War es dieses Mal ihre wahre Rolle?
Aber wieder stellte sie auch die Versuchung dar. Eine Versuchung, der er hier gewiß widerstehen mußte, wenn ihn nicht das furchtbare Gewicht der Pyramide zermalmen sollte.
Aber sie war schon zum nächsten Bild weitergegangen – und es war leer. „Der Geist“, sagte sie. „Das Unbekannte oder Ungewisse, das Unendliche, das Nichts.“
Was? Das war keine Tarotkarte. Er blieb stehen und wollte gerade fragen – hielt sich aber noch zurück. Keine Fragen! Seine Gedanken über ihre Anziehungskraft hatten ihn fast in eine Falle gelockt. Er würde alles einfach akzeptieren müssen, denn dies hier war kein Tarot. Nicht ganz jedenfalls. Es war – etwas
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