Die Visionen von Tarot
…
Und das Kind, Carolyn – war sie nur eine Halluzination? Das Sonderbare war, daß sie ihm allmählich bekannt vorkam, wenn er auch unverheiratet und kinderlos war. Wie konnte er sich also an sie erinnern? Die Manifestationen der Animationen konnten vielleicht die Welt seiner Sinne verändern, hatten aber bislang seine Verstandes weit unberührt gelassen. Sein fester Glaube an die Unantastbarkeit seiner grundsätzlichen Identität hatte ihn während dieses außergewöhnlichen Abenteuers aufrecht gehalten; wenn seine Selbsteinschätzung, seine Würde, sein Selbstbild ihn verließen oder irgendwie beeinträchtigt wurden, war er verloren. Er wollte nicht mit seinem Verstand spielen lassen.
Er konzentrierte sich und versuchte, aus der Vision auszubrechen. Carolyn drehte sich ihm mit großen blauen Augen zu. „Daddy … alles in Ordnung?“
Bruder Paul vergaß sein Vorhaben. Wenn er diese Vision verließ – was würde aus ihr werden? Vermutlich besaß sie außerhalb seiner Phantasie keinerlei Realität, aber irgendwie hatte er den Eindruck, sie sei in etwas gefangen, aus dem der Hauptdarsteller entflohen war. Entsetzlicher Gedanke! Er mußte sie sicher nach Hause bringen – oder wohin auch immer. Dann konnte er verschwinden. Entsprechend den Spielregeln.
Der Flughafen von Boston war wie jeder andere Flughafen auch in den Tagen vor dem großen Exodus von der Erde. Nur die Umgebung der Stadt schien verändert, zusammengeschrumpft. Aber nicht wie die meisten heutigen Städte, denn hier gab es noch Strom, und in den Wolkenkratzern brannte auch in den oberen Stockwerken Licht, was auf Bewohner schließen ließ. Sonderbar, sehr sonderbar!
Der Boden flog auf sie zu. Die Räder setzten auf. Das Flugzeug bremste und rollte schließlich langsam vor dem Gebäude aus. „Geschafft“, murmelte Bruder Paul.
Sie stiegen aus und befanden sich im Hauptankunftsgebäude. Den Tickets zufolge hatten sie nun einige Stunden Aufenthalt, ehe die nächste Maschine abging. „Können wir im Flughafen etwas essen, Daddy?“ fragte Carolyn.
Bruder Paul suchte in seinen Taschen und entdeckte, daß er genügend Bargeld bei sich hatte. Sie konnten also essen gehen. Die Preise waren hoch, und das Essen dafür war nicht angemessen, aber das kleine Mädchen war glücklich. Es war ihr egal, was sie aß. Eigentlich wollte sie nur einmal auf einem Flughafen gegessen haben. Danach machten sie einen Gang durch die Umgebung, und Carolyn fand alles faszinierend, von den verglasten Gebäuden bis zu den Kellergittern. Bruder Paul mochte dieses Kind. Es war leicht, ihre Begeisterung zu teilen. So war sie immer gewesen: hyperaktiv, neugierig, aufgeregt. Von Geburt an, dachte er.
Wieso erinnerte er sich? Sie war das Konstrukt der Gegenwart und hatte außerhalb dieser Vision keinerlei Realität, weder Vergangenheit noch Zukunft. Oder?
Bruder Paul schüttelte den Kopf und betrachtete sie, wie sie fröhlich vor ihm hertrippelte, so eifrig wie ein junger Hund, der eine aufregende Spur verfolgt. Er fühlte sich schuldig, wenn er die Illusion aufbrechen wollte. Warum wollte er sich nicht erinnern – an was hatte er sich eigentlich erinnern wollen?
Schließlich checkten sie sich auf dem anderen Flughafen ein für den Sprung in die unerforschte Wildnis von Neu-England. Nach dem riesigen Düsenflugzeug wirkte diese kleine Zwanzig-Personen-Propellermaschine wie ein Spielzeug. Aber sie schoß hoch, als würde sie von stark gespannten Gummibändern gezogen, und flog bald in den Himmel. Doch bei jeder kleinen Wolke sackte sie ein wenig ab, was Bruder Paul beunruhigte und Carolyn Angst machte. Sie schien einfach nicht sicher
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