Die Vogelkoenigin
Maske. Doch er sah ihre Augen dahinter, in sie hinein und erwiderte ihren Blick, und er ahnte wohl das Lächeln, denn zaghaft lächelte er selbst. Dann griff er sich erschrocken ans Gesicht.
»Es ist gut.« Zoe gab ihm die Maske. »Niemand außer uns beiden hat dich gesehen. Wir mussten sie abnehmen, um dir zu helfen.«
»Ich ... verstehe.« Er befestigte die Maske vor seinem Gesicht und setzte sich auf. »Es ist trotzdem nicht einfach für mich, dass du mich so siehst.«
»Ich hab’s beim ersten Mal überlebt, und es hat sich nichts geändert. Abgesehen davon, dass wir Angst hatten, dich zu verlieren.«
»Ich ... ich bin gestorben.«
»Nein«, widersprach Nidi. »Der Adler ist gestorben, nicht du, du hast es nur miterlebt und geglaubt, du würdest sterben. Du hast dich zu spät zurückgezogen.«
»Ich ... ich habe es nicht geschafft.« Der Prinz stand langsam auf. »Der arme Adler ... Ich habe ihn dazu gezwungen, Leonidas anzugreifen - ich konnte nicht widerstehen ...«
»Das ist nur zu verständlich«, sagte Zoe. »Ich hätte ihm ja meinen Stiletto in die Stirn geklopft, wenn ich noch einen hätte. Hat schon bei Sandwürmern geholfen.«
»Deine Idee war ja toll und unglaublich, dass du das überhaupt geschafft hast und wieder mit heilem Geist bei uns bist«, fügte Nidi an. »Nur ist er jetzt leider stinksauer.«
»Ich habe es zumindest versucht.« Der Prinz straffte seine Haltung, zog das Schwert und ging zu seinen Leuten, die sich vor dem Eingang berieten. »Kommt es jetzt endlich zur Entscheidung?«, fragte er mit völlig veränderter, harter Stimme.
»Offenbar. Du hast ihn aus der Reserve gelockt«, antwortete Birüc.
»Schön. Er hätte vergangene Nacht abziehen können. Jetzt muss er den Preis dafür zahlen.«
Finn grinste ihn an. »Du hast ihm ordentlich in den Hintern getreten und ihn vom hohen Ross geholt«, sagte er. »Das hat ihm nicht sonderlich gefallen.«
Der Prinz hob den Kopf zu dem Soldaten, der den Ausguck besetzt hielt. »Was hat er vor?«
»Nichts Gutes, mein Prinz. Gar nichts Gutes.«
15
Die Böse
Erkenntnis
D ie Zeitung fiel zu Boden. Lauras zarter Körper wurde von Krämpfen geschüttelt. Beinahe wäre sie von der Bank gestürzt, und sie schluchzte auf.
Vergangenheit! Bedeutete das, sie war hier für immer gestrandet, verloren? Würde sie sich selbst begegnen, noch als Schulmädchen, im gnadenlosen Griff der Eltern? Konnte sie Einfluss auf sich selbst nehmen, um ... Ja, was? Aber wie lange konnte sie doppelt existieren?
»Das ist ja alles Wahnsinn«, flüsterte sie. Ihr war schwindlig, ihre Sicht verschwamm, aber nicht allein wegen der Tränen.
Ich gehöre hier nicht her.
Es schien keinen Platz auf der Welt mehr zu geben, an den sie gehörte.
Weil du längst tot bist, kicherte eine Giftstimme in ihr. Weil du dich an ein Leben klammerst, das nicht mehr existent ist.
Sie presste die Hände an den Kopf. »Nein ... nein ...«
Ein paar Fußgänger kamen vorbei, und Laura unternahm einen letzten Versuch. Sie hätte sich auf alles eingelassen, wenn nur etwas mit ihr geschah. »Können Sie mir helfen, bitte?«, fragte sie zaghaft, und als niemand antwortete oder auch nur zu ihr hersah, rief sie lauter: »Bitte, ich brauche Hilfe! Ich habe mich am Fuß verletzt und kann nicht mehr aufstehen!«
Das konnte sie tatsächlich nicht. Sie schien an der Bank festzukleben. Jetzt bekam sie es richtig mit der Angst zu tun.
»Hilfe!«, stieß sie verzweifelt hervor. »Hilfe!«
Aber genau wie Lan-an-Schie und ihre Begleiter zuvor nahm sie niemand wahr. Die Leute zuckten nicht einmal mit dem Muskel; kein neugieriger Blick oder scheues Wegschauen, um nur ja nicht gemeint zu sein. Niemand sah oder hörte sie.
Etwas war geschehen seit dem Verlassen des Krankenhauses. Die Menschen in der Vergangenheit konnten sie nicht mehr sehen und hören.
Ich löse mich auf, dachte Laura völlig verängstigt. So ist das also ...
Aber sie hatte sich doch gar nicht aufgegeben! Wie konnte es sein? Oder war die Zeit »strenger« als eine andere »Dimension« und stieß einen Körper umso schneller ab und löste ihn entsprechend schneller auf?
»Ich will nicht sterben!« Sie schluchzte. Mühsam bückte sie sich und hob die Zeitung auf, betrachtete ungläubig das Datum. Es war ein Zeitparadoxon, dem sie unterlag. Das war anscheinend für eine gewisse »Inkubationszeit« ohne Belang, aber jetzt zeigte es Auswirkungen. Vielleicht war ihr zu dieser Zeit existierendes Ich in der Nähe und rief eine solche
Weitere Kostenlose Bücher