Die Voliere (German Edition)
Obergeschoss, um die nächste Aufgabe zu delegieren. Oben am Treppenabsatz öffnete er im Vorbeigehen das Fenster, um durchzulüften.
Er klopfte an Rosens Zimmertür: ein Mal, zwei Mal – keine Antwort. Lefeber wunderte sich, denn Rosen war nach dem zweiten Frühstück hinaufgegangen und hatte sich nicht abgemeldet.
Er öffnete die Tür. Rosen saß auf seinem Bett, die Stimme von Udo Jürgens war sogar durch den Kopfhörer, den er aufgesetzt hatte, deutlich zu erkennen.
Etwas Grün-Gelbes schoss auf Lefeber zu. Mit einem Schrei riss er die Arme hoch. Willi, Rosens Wellensittich, flatterte an ihm vorbei in den Flur. Rosen sprang wie von der Tarantel gestochen auf, riss das Radio, an das der Kopfhörer angeschlossen war, zu Boden. Das Gerät im Schlepptau, rannte er in den Flur.
Er sprang an den Wänden hoch, um den panisch mit den Flügeln schlagenden Vogel einzufangen, seine Pranken öffneten und schlossen sich wie Baggerschaufeln. Aber er war viel zu langsam. Willi wirbelte Richtung Treppe, huschte durch das offene Fenster ins Freie, erhob sich über dem Mühlengebäude hoch in die Lüfte und verschwand zwischen den Bäumen.
Heinz Rosen stand mit schreckgeweiteten Augen am Fenster und schrie verzweifelt den Namen seines Wellensittichs in den Scheelbacher Forst hinaus.
*
Rosen war völlig aufgelöst. Mit verheulten Augen saß er am Esszimmertisch und murmelte immerzu Willis Namen, wenn er nicht gerade Lefeber einen vorwurfsvollen Blick zuwarf.
»Warum hast du ihn überhaupt aus dem Käfig rausgelassen?«, wollte dieser wissen.
»Wenn er schon nicht in der Voliere sein kann, sollte er doch wenigstens ab und zu ein bisschen fliegen dürfen.«
»Die Voliere hätten wir längst reparieren können.«
»Jetzt ist es zu spät«, jammerte Rosen.
»Nero würde ein bisschen Freigang auch nicht schaden.« Lefeber hielt seinem Freund ein frisches Taschentuch hin. »Willi kehrt bestimmt bald zurück, Heinz. Wellensittiche sind treue Tiere. Außerdem kommt der doch in Freiheit gar nicht klar.«
»So wie wir«, schniefte Rosen.
»Wie wahr«, pflichtete Lefeber ihm grimmig lächelnd bei.
Neben dem Tisch stand der Karton, in dem der neue Staubsauger noch originalverpackt auf seinen Einsatz wartete. Nun fiel Lefeber auch wieder ein, warum er Rosen aufgesucht hatte. Ein bisschen Ablenkung durch Hausarbeit täte ihm gut, schlug er vor. Rosen solle mit dem Wohnzimmer anfangen, sobald er das Ding zusammengesetzt habe.
Lefeber ging in die Küche, um Kaffee aufzusetzen. Er hasste Filterkaffee, so wie er ihn mehr als zwanzig Jahre lang im Gefängnis gehasst hatte, aber im Haus gab es keine Mokkakanne und so musste er sich mit dem Gebräu begnügen, das aus Neumanns rotem Plastikungetüm tröpfelte. Kurze Zeit später mischte sich in das Gluckern aus dem Filter das gedämpfte Surren des Staubsaugers. Lefeber spülte das Frühstücksgeschirr ab, solange der Kaffee durchlief, dann schenkte er zwei Tassen für sie ein und kehrte ins Wohnzimmer zurück.
Rosen schob den Staubsauger vor sich her, dazu krähte er laut irgendeinen traurigen Schlager, in dem sich Herz auf Schmerz reimte, wenn er nicht gerade hustete. Die Luft war zum Schneiden dick. Der Dreck, den der Staubsauger vorne einzog, wurde am Lüftungsschlitz wieder ausgepustet; in den wenigen Sonnenstrahlen, die durch die Fenster fielen, sah man Staubpartikel tanzen.
Lefeber musste drei Mal laut rufen, bis Rosen ihn endlich hörte. Der Staubsauger verstummte.
»Sag mal, merkst du nicht, dass da was nicht stimmt?«
Der Hüne sah ihn mit großen Augen an.
»Tut mir leid, Adam.«
»Hast du in deinem ganzen Leben noch nie einen Staubsauger in der Hand gehabt?«
»Ist eine Weile her.«
»Mit was für Vollidioten bin ich hier gestrandet, verdammt noch mal?« Nun schrie Lefeber wirklich, obwohl es mucksmäuschenstill im Haus war und er gar keinen Grund mehr hatte. Hustend riss er das Fenster auf, schnappte seine Kaffeetasse vom Tisch und flüchtete in die Küche.
»Entschuldige bitte, Adam«, rief Rosen ihm kleinlaut hinterher und fing wieder an zu heulen, aber da war Lefeber schon verschwunden.
Zwei Stunden später stieg Lefeber in den Keller hinab, um nachzusehen, ob die Wäsche durchgelaufen war. Eine Welle aus schlechtem Gewissen und Scham überkam ihn beim Anblick von Rosen, der reglos am Esszimmertisch saß und aus dem Fenster blickte.
Entschlossen betrat er den Waschkeller. Er beugte sich hinunter und spähte durch die Sichtscheibe. Die Kleidungsstücke –
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