Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die volle Wahrheit

Die volle Wahrheit

Titel: Die volle Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Terry Pratchett
Vom Netzwerk:
anderer Mann.
    »Ja, stimmt«, pflichtete ihm sein Nachbar bei. »Aber der Patrizier
    würde ihn umbringen, wenn er versucht, von dort in die Tiefe zu sprin-
    gen.«
    »Und?«
    »Nun, es ist eine Frage des Stils .«
    »Der Kunstturm wäre bestens geeignet«, sagte eine Frau voller Zuver-
    sicht. »Er ist fast dreihundert Meter hoch. Und er bietet einen guten
    Ausblick.«
    »Zugegeben, zugegeben. Aber man hat auch viel Zeit, um darüber
    nachzudenken. Auf dem Weg nach unten, meine ich. Das ist meiner
    Ansicht nach nicht unbedingt der geeignete Zeitpunkt, um introspektiv
    zu werden.«
    »Hört mal, ich habe hier eine Wagenladung Krabben, und wenn ich
    noch länger aufgehalten werde, gehen die Biester nach Hause«, stöhnte ein Fuhrmann. »Warum springt er nicht endlich?«
    »Er denkt darüber nach. Ist immerhin ein wichtiger Schritt.«
    Der Mann auf dem Vorsprung drehte den Kopf, als er ein kratzendes
    Geräusch hörte. William schob sich über den Sims und gab sich alle
    Mühe, nicht nach unten zu blicken.
    »Morgen. Du bist bestimmt gekommen, um es mir auszureden.«
    »Ich… ich…« William versuchte, nicht in die Tiefe zu starren. Von unten hatte der Sims breiter ausgesehen. Inzwischen bedauerte er die gan-
    ze Angelegenheit. »Das käme mir nicht in den Sinn…«
    »Ich bin immer gern bereit, es mir ausreden zu lassen.«
    »Ja, ja… äh… würdest du mir bitte deinen Namen und deine Adresse
    nennen?«, fragte William. Ein völlig unerwarteter und ziemlich unange-
    nehmer Wind wehte hier oben, schickte gemeine Böen über die Dächer
    und ließ die Seite des Notizbuchs flattern.
    »Warum?«
    »Äh… aus dieser Höhe und auf hartem Boden kann es recht schwie-
    rig sein, dies später herauszufinden«, sagte Wil iam und bemühte sich,
    nicht zu stark auszuatmen. »Wenn ich das hier in der Zeitung bringen
    will, muss ich deinen Namen nennen können.«
    »Welche Zeitung meinst du?«
    William zog eine Ausgabe der Times aus der Tasche. Der Wind wollte sie ihm aus der Hand reißen, als er sie dem Mann reichte.
    Der Unbekannte setzte sich und las, wobei sich seine Lippen beweg-
    ten. Seine Beine baumelten über der Leere.
    »Das sind also Dinge, die geschehen sind?«, fragte er. »Wie ein Ausru-
    fer, nur niedergeschrieben?«
    »Ja. Also, wie lautete dein Name?«
    »Was soll das heißen, wie er lautete ?«
    »Äh, du weißt schon… ich meine…« William deutete in die Tiefe und
    verlor fast das Gleichgewicht. »Wenn du…«
    »Arthur Spinner.«
    »Und wo hast du gewohnt, Arthur?«
    »In der Plappergasse.«
    »Und was war deine Arbeit?«
    »Du sprichst schon wieder in der Vergangenheit. Die Wache bietet
    mir für gewöhnlich eine Tasse Tee an.«
    In Wil iams Kopf läutete eine warnende Glocke. »Du… springst häu-
    fig, nicht wahr?«
    »Ich erledige nur die schwierigen Dinge.«
    »Und woraus bestehen die schwierigen Dinge?«
    »Aus dem Klettern. Das eigentliche Springen lasse ich aus. Das erfordert keine Facharbeit. Ich konzentriere mich mehr auf den ›Um-Hilfe-
    schreien-Aspekt‹.«
    William suchte an einer glatten Mauer nach Halt. »Und du erhoffst dir
    welche Art von Hilfe…?«
    »Wie wär’s mit zwanzig Dollar?«
    »Oder du springst?«
    »Nun, ich springe nicht in dem Sinne. Ich meine, ich bringe nicht den ganzen Sprung hinter mich. Nicht unbedingt. Aber ich drohe weiterhin
    damit, in die Tiefe zu springen, wenn du verstehst, was ich meine.«
    Das Gebäude erschien William jetzt viel höher als auf dem Weg über
    die Treppe nach oben. Die Leute unten waren viel kleiner. Er erkannte
    einzelne nach oben blickende Gesichter. Der Stinkende Alte Ron be-
    fand sich unter den Schaulustigen, zusammen mit seinem räudigen
    Hund und dem Rest der Gruppe – improvisiertes Straßentheater übte
    eine geradezu unheimliche Anziehungskraft auf sie aus. William sah
    sogar Henry Hustens »Drohe für Nahrungsmittel«-Schild. Und er sah
    die langen Kolonnen aus Kutschen und Karren, die inzwischen halb
    Ankh-Morpork lahmlegten. Er fühlte, wie ihm die Knie weich wur-
    den…
    Arthur hielt ihn fest. »He, dies ist meine Stelle«, sagte er. »Such dir ei-ne andere.«
    »Du meintest eben, das Springen sei keine Facharbeit«, sagte William
    und versuchte, sich auf die Notizen zu konzentrieren, während die Welt
    um ihn herum langsam rotierte. »Was war deine Arbeit, Herr Spinner?«
    »Ich bin Turmarbeiter.«
    »Arthur Spinner, komm sofort da runter!«
    Arthur blickte nach unten.
    »Meine Güte, jemand hat meine Ehefrau geholt«,

Weitere Kostenlose Bücher