Die volle Wahrheit
»Sollte ein Vampir…«
Klick.
Der Salamander leuchtete auf. Das Zimmer verwandelte sich in ein
Muster aus grellem weißen Licht und schwarzen Schatten.
Otto schrie, fiel zu Boden und griff sich mit beiden Händen an die
Kehle. Er sprang wieder auf, verdrehte die Augen, keuchte, taumelte
mit gummiweichen Beinen durch den Raum, kam torkelnd zurück und
sank hinter einen Schreibtisch. Eine heftig zitternde Hand verstreute
Zettel und Blätter.
»Aarrghaarrghaarrgh…«
Es folgte schockierte Stille.
Otto erhob sich, rückte seine Krawatte zurecht und klopfte Staub von
seinem Anzug. Dann sah er auf und bemerkte die erschrockenen Ge-
sichter.
»Nun?«, sagte er streng. »Was starrt ihrr so? Es ist eine norrmale
Rreaktion, weiterr nichts. Ich arrbeite darran. Licht in al en Forrmen ist meine Leidenschaft. Licht ist meine Leinwand, und Schatten sind mein
Pinsel.«
»Aber intensives Licht bereitet dir Schmerzen!«, erwiderte Sacharissa.
»Es verletzt Vampire!«
»Ja, da hast du leiderr Rrecht. Eine ziemlich ärrgerrliche Angelegen-
heit.«
»Und, äh, das passiert jedes Mal, wenn du ein Bild aufnimmst?«, fragte
William.
»Nein, manchmal ist es viel schlimmerr.«
»Schlimmer?«
»Es kommt vorr, dass ich zu Staub zerrfalle. Aberr was uns nicht
umbrringt, macht uns starrk.«
»Starrk?«
»Ja!«
William bemerkte Sacharissas Blick. Ihre stumme Botschaft lautete:
Wir haben ihn eingestel t. Bringen wir es jetzt übers Herz, ihn zu entlas-
sen? Und mach dich nur dann über seinen Akzent lustig, wenn dein
Überwaldisch wirklich gut ist, verstanden?
Otto bereitete den Ikonographen vor und schob ein neues Blatt hin-
ein.
»Verrsuchen wirr es noch einmal«, sagte er fröhlich. »Und diesmal –
alle lächeln!«
Post traf ein. An eine gewisse Menge war Wil iam gewöhnt, meistens
von den Lesern seiner Nachrichtenbriefe, die darüber klagten, dass er
nichts über die doppelköpfigen Riesen, Seuchen und Regen aus
Haustieren verlauten ließ – Phänomene, von denen sie gehört hatten
und die in Ankh-Morpork an der Tagesordnung zu sein schienen. In
einem Punkt hatte sein Vater Recht: Lügen konnten tatsächlich über die
ganze Welt laufen, bevor die Wahrheit ihre Stiefel angezogen hatte.
Und es war erstaunlich, wie sehr die Leute an so etwas glauben wollten.
Diese Post hingegen… Nun, William kam sich vor, als hätte er einen
Baum geschüttelt, woraufhin al e Nüsse herabfielen. Einige Briefe wie-
sen darauf hin, dass es viel kältere Winter als diesen gegeben hatte, aber bezüglich der Frage des Wann gingen die Meinungen weit auseinander.
In einem anderen Brief hieß es, heute sei das Gemüse nicht mehr annä-
hernd so lustig wie früher, was vor allem für Porree galt. Ein weiterer
Briefautor fragte, was die Diebesgilde in Hinsicht auf nicht lizensierten
Diebstahl in der Stadt zu unternehmen gedachte. Noch jemand anders
behauptete, al die Raubüberfälle gingen auf Zwerge zurück, die man
nicht in der Stadt dulden sollte, weil sie den ehrlichen Leuten die Arbeit wegnähmen.
»Richte eine Rubrik namens ›Leserpost‹ ein und bring die Briefe dort«,
sagte Wil iam. »Bis auf den über die Zwerge. Er klingt nach Herrn
Windling. Und auch nach meinem Vater. Aber der weiß wenigstens, wie
man ›unerwünscht‹ schreibt, und außerdem verwendet er keine Bunt-
stifte.«
»Warum nicht den Brief über die Zwerge?«
»Weil er beleidigend ist.«
»Manche Leute halten das für wahr«, sagte Sacharissa. »Es hat eine
Menge Ärger gegeben.«
»Ja, aber wir sollten so etwas nicht drucken.«
William zeigte den Brief Gutenhügel. Der Zwerg las.
»Bringt ihn ruhig«, sagte er. »Er fül t einige Zentimeter.«
»Aber die Leute werden protestieren«, wandte William ein.
»Gut. Bringt auch ihre Briefe.«
Sacharissa seufzte. »Wahrscheinlich brauchen wir sie. William, mein
Großvater meint, niemand in der Gilde sei bereit, die Ikonographien
für uns zu gravieren.«
»Warum denn nicht? Wir können sie bezahlen.«
»Wir sind keine Gildenmitglieder. Es ist alles sehr unangenehm.
Sprichst du mit Otto?«
William seufzte und ging zur Leiter.
Die Zwerge nutzten den Kel er als Schlafzimmer, denn sie hatten
gern einen Boden über dem Kopf. Sie waren bereit gewesen, Otto eine
feuchte Ecke zur Verfügung zu stel en. Ein altes Laken, aufgehängt an
einem Seil, sorgte dort für ein wenig Privatsphäre.
»Oh, hal o, Herrr William«, sagte Otto und schüttete eine scharf rie-
chende
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