Die Wacholderteufel
liebsten wäre er einen Moment durch die Hintertür verschwunden und hätte in seinem Wohnzimmer kurz durchgeatmet. Doch dort hing ein Foto über dem Fernsehapparat. Das Familienfoto mit Ulrich und ihm, als sie Kinder waren. Das Foto, auf dem er selbst in kurzen Hosen vor seinen Eltern stand. Und neben ihm der Junge mit den graublauen Augen, den fleischigen Wangen und dem dunkelblonden Bürstenhaar. Er hätte es betrachten müssen und wäre dann in seinem Zimmer ebenso wenig zur Ruhe gekommen, wahrscheinlich hätte sein Herz sogar noch heftiger geschlagen. Also sah er dem Kind direkt in die Augen und versuchte, freundlich zu lächeln, obwohl er von seiner Erinnerung niedergedrückt wurde.
«Möchtest du ein Teufelskind sein?»
«Muss ich da viel auswendig lernen?»
«Nein, bestimmt nicht.»
«Dann meinetwegen Teufelskind.» Er scharrte mit den klobigen Turnschuhen durch die Holzspäne am Boden und rieb sich mit dem Daumen über den Oberschenkel. Stefan Brampeter schluckte. Wie lang schon hatte er diese Geste nicht mehr gesehen? War es überhaupt möglich, dass sich eine solche Gewohnheit, diese unbewusste Handbewegung am Bein, tatsächlich vererben ließ, ohne dass sich Vater und Sohn jemals begegnet waren?
«Und was machen wir jetzt?», fragte das Mädchen.
Stefan Brampeter rollte eines der Räder aus der Ecke hervor. Es war das, welches er heute Abend auf der Versammlung den anderen zeigen wollte. Das Sonnengesicht in der Mitte drehte sich um sich selbst. Er griff mit der immer noch leicht zitternden Hand nach einem Heubündel aus der Kiste, fasste es in der Mitte zusammen und steckte es in eines der Löcher. «Das Rad hat in der Nacht der Wintersonnenwende eine ganz besondere Bedeutung», erklärte Stefan Brampeter, und er merkte sofort, dass er nur wenig Talent hatte, kleine Kinder für sein Thema zu begeistern. Das Mädchen blickte enttäuscht zum Fenster hinaus, wahrscheinlich hatte sie eher auf eine Kostümprobe mit Seidengewand als auf einen Vortrag über germanische Bräuche spekuliert. Der Junge bohrte in der Nase. Stefan Brampeter holte ein Feuerzeug aus seiner Hosentasche, wollte es anreißen, doch die Nervosität machte es ihm schwer, erst im dritten Versuch entstand eine Flamme, die er unter das Heu hielt. Zunächst stieg nur gräulicher Rauch auf, in dünnen Fahnen zog er nach oben, dann krümmten sich die ersten trockenen Grasspitzen zu orangeroter Glut zusammen.
Nun schauten die Kinder zu ihm. Feuer war immer interessant. Stefan Brampeter erinnerte sich noch, dass es bei ihm nicht anders gewesen war. Wenn jemand mit Flammen hantierte, wenn Erwachsene zündelten, dann hatten er und sein Bruder ihre Neugierde nicht im Zaum halten können. Ulrich hatte ein Faible für Feuer. Er hatte gern mit Verbotenem hantiert. Auch als er erwachsen geworden war, doch das war eine andere Sache gewesen. Als Kind hatte Ulrich das Zündeln noch ein fasziniertes Augenglänzen entlockt. Genau wie bei diesem Jungen hier, der mit geöffnetem Mund und hochgezogenen Augenbrauen auf die Glut starrte. Die Erinnerung lenkte Stefan ab, er verbrannte sich die Fingerspitzen. «Au, das ist aber heiß!» Zum Glück konnte er einen Fluch unterdrücken. Die Kinder kicherten beide.
«Am Julfest – so nennt man die Wintersonnenwende auch – wurden schon im Mittelalter nach altem Brauch brennende Räder einen kleinen Abhang oder Berg hinuntergerollt. In einigen Gemeinden hier in der Nähe gibt es noch einen vergleichbaren Brauch in der Osternacht.»
Man konnte es schon ein kleines Feuerchen nennen, was an der Speiche des Rades leckte. Das Mädchen schaute respektvoll mit großen Augen zu ihm hinüber.
«Es hat etwas damit zu tun, dass man das Rad als Symbol der ewigen Wiederkehr versteht. Also das Eine ist vergangen und das Neue beginnt, immer und immer wieder.»
Der süßliche Geruch von verbranntem Gras breitete sich aus. Das Mädchen hielt sich die Nase zu.
«Deswegen lassen wir die Räder rollen, und wenn sie brennend am unteren Teil des Abhanges ankommen, wird es einen nicht zu strengen Winter geben, einen schönen Frühling, einen heißen Sommer und einen ertragreichen Herbst.»
Das abgebrannte Heu fiel in pulverisierten Aschefäden zu Boden. Stefan Brampeter trat die restliche Glut mit dem Schuh aus. Das Mädchen schien erleichtert zu sein, dass nichts mehr brannte.
«Die Zuschauer werden jubeln und klatschen, wenn alles gut geht. Die brennenden Räder bringen den Menschen Glück!»
«Wer’s glaubt, wird selig»,
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