Die Wacholderteufel
sich kaum bändigen ließ.
«Ich weiß, was Sie jetzt denken», sagte Vilhelm.
«Und?»
«Sie fühlen sich wie bei einem Verhör.»
«Kann sein.»
«Ich sehe Ihnen an, dass Sie geladen sind, innerlich angespannt.»
Wencke ließ die Strickjacke augenblicklich los. «Kann sein», wiederholte sie.
Doch der Therapeut machte weiter. «Etwas in Ihnen will heraus, will erzählt werden …»
Er hatte ja Recht. Bei Verbrechern war es auch so. Sie konnten es im Grunde auch nicht erwarten, etwas von sich und dem, was sie umtrieb, zu erzählen. Sie war zwar keine Verbrecherin, aber ansonsten …
«Machen Sie es sich nicht so schwer. Nutzen Sie die Chance, mir ein wenig von sich zu erzählen. Dann geht auch diese Anspannung verloren, Sie werden sehen. Und was Sie sagen, wird – im Gegensatz zu einem Polizeiverhör – nicht aus diesen vier Wänden dringen.»
«Das wäre ja auch noch schöner», zickte Wencke kurz. Dann schwieg sie wieder. Vilhelm sagte nichts. Sie hörte seinen ruhigen Atem und das dezente Ticken der Wanduhr. Draußen auf dem Flur unterhielten sich zwei Frauen im Vorübergehen. Der Wind drückte gegen die Fensterscheibe.
Wencke erhob sich spontan und ging die wenigen Schritte zur Couch. Es tat gut, sich hinzulegen. Nach der schlechten Nacht freute sich ihr Körper auf die entspannende Position. Sie schaffte es sogar, die Augen zu schließen. Gott sei Dank, Vilhelm gab keinen Kommentar von sich. Sie wartete noch einen Moment.
«Wissen Sie, was das ganze Elend an der Sache ist?», sagte sie schließlich.
«Ja?»
Sie spürte ein feines Kitzeln unter ihrem Bauchnabel und legte die Hand darauf.
«Egal, wo ich bin. Immer scheine ich fehl am Platz zu sein. Das war schon immer so.»
«Was meinen Sie damit?»
«Ach …» Wencke wusste, sie hatte ziemlich viel zu erzählen, hier, in diesen vier Wänden.
9
Das Wappen war fertig. Stefan Brampeter fuhr mit der Hand über das Rot und das Gold der Ornamente, dann wickelte er das gute Stück in einen Bogen Seidenpapier und anschließend in eine alte Zeitung.
Er war müde. Wenn er seinen gewohnten Nachtschlaf nicht bekam, konnte er den Tag darauf so gut wie vergessen. Da er normalerweise nur Mittwochabends länger wach blieb, nahm er sich, wenn es sich machen ließ, am Donnerstag lediglich Aufräumarbeiten und den leidigen Papierkram vor. Der gestrige Dienstagabend, der nach dem Anruf einen solch unvorhersehbaren Verlauf genommen hatte, hatte seinen Turnus durcheinander gebracht.
Er ließ das kurze Telefonat noch einmal Revue passieren. Die Tatsache, dass
sie
nach all den Jahren wieder im Ort war, hatte ihm seine Ruhe genommen. Wahrscheinlich würden noch einige schlaflose Nächte folgen. Und er wusste, er war nicht der Einzige, dem es so erging.
Als er den breiten Paketkleber über das Zeitungspapier rollte, fiel ihm die Schlagzeile der letzten Woche ins Auge: «Junge Frau stürzt sich von Externsteinen – Wärter eilte zu Hilfe, konnte die Tragödie jedoch nicht verhindern».
Stefan Brampeter setzte sich auf den Hocker und las die Titelstory der Samstagausgabe der «Lippischen Landeszeitung» – obwohl er sie schon fast auswendig kannte – noch einmal:
Horn-Bad Meinberg/16. Dezember/Gestern am späten Nachmittag gab es an den Externsteinen einmal mehr einen tragischen Unglücksfall. Eine dreißigjährige Frau stürzte sich in selbstmörderischer Absicht vom Hauptfelsen und konnte nur noch tot aus dem See geborgen werden. Der Angestellte des Horner Forstamtes Horst T., dem das Verhalten der Frau verdächtig erschienen war, versuchte vergeblich, den Sprung zu verhindern. Die aus Bochum stammende Frau, tragischerweise im siebten Monat schwanger, war seit drei Wochen zur Kur in der «Sazellum»-Klinik untergebracht und wäre in wenigen Tagen wieder zu Mann und dreijähriger Tochter zurückgekehrt. Aus welchem Grund sie den Freitod wählte, ist bislang unbekannt, die Mitpatientinnen gaben jedoch Auskunft, dass ihnen die Frau während des gesamten Kuraufenthaltes «depressiv und niedergeschlagen» erschienen wäre. Man nimmt an, dass eine familiäre Krise am Heimatort der Toten ausschlaggebend für den Suizid war. Der gestrige Fall ist der erste Todessturz an den Externsteinen seit mehr als zwei Jahren. «Wir befürchten jedoch, dass es Fälle der Nachahmung geben könnte», so die Mordkommission Detmold, die in diesem Fall ermittelt. Die Erfahrung habe gezeigt, dass insbesondere an einer öffentlichen Stelle wie den Externsteinen die
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