Die Wacholderteufel
diskret zu behandeln. Sie verstehen, was ich meine?»
«Ja, natürlich», antwortete Wencke. Sie wusste, der entschiedene Blick aus den geschminkten Augen sollte ein höflicherRausschmiss sein. Sie ignorierte es und blieb sitzen, bis auch die Direktorin wieder auf den Ledersessel sank. Wencke kannte die untrüglichen Zeichen von Desinteresse nur zu gut. Und dass Viktoria Meyer zu Jöllenbeck soeben begann, die lackierten Fingernägel ihrer rechten Hand zu kontrollieren, sprach nicht gerade dafür, dass sie gleich eine Suchaktion nach Nina Pelikan einzuleiten gedachte.
«Hören Sie, ich habe beruflich oft mit Fällen wie diesem zu tun. Ich denke nicht, dass Frau Pelikan ihren Sohn grundlos allein lässt. Und das mitten in der Nacht …»
Nun wurde die Manikürearbeit an der linken Hand einer Inspektion unterzogen. «Ich sagte Ihnen doch bereits: Ich werde mich darum kümmern!» Die Ignoranz der Kurleiterin schrie zum Himmel.
«Das werde ich dem kleinen Mattis wortwörtlich so von Ihnen ausrichten, sollte seine Mutter bis Schulschluss nicht wieder aufgetaucht sein. Sie haben doch sicher nichts dagegen …» Wencke schenkte der Frau hinter dem Schreibtisch noch einen Blick, den sie lange zu Hause vor dem Spiegel geübt und der in der Auricher Mordkommission noch nie seine Wirkung verfehlt hatte. Dann folgte sie der unausgesprochenen Aufforderung, stand auf und verließ das Büro der Klinikleitung.
Der Flur neben der Rezeption war leer. Die meisten Frauen waren jetzt beim Basteln oder in den Anwendungen. Es war Viertel nach neun. Einige an der Decke aufgehängte Papptannenbäume wackelten in der Zugluft. Im Kleinkinderhort am Ende des Korridors sang Rolf Zuckowski mit seinen Freunden das Lied aus der Weihnachtsbäckerei. Eine ältere Frau wischte mit einem fransigen Lappen über die Stufen zum Speiseraum. Hinter der abgetönten Glastür konnte man sehen, wie weiß bekitteltes Personal eifrig das Buffet und die voll gestellten Tische leer räumte.
Alle hatten etwas zu tun. Alles lief seinen gewohnt vormittäglichenGang. Nur Wencke stand hier, ohne Plan und Aufgabe. Geplagt von der lauter werdenden inneren Stimme, sich auf die Suche machen zu müssen, und der ermahnenden Vernunft, sich diese freie Zeit einfach mal zu nehmen, blieb sie dort stehen, blickte links und rechts, atmete ein und aus und brachte keinen Schritt vor den anderen.
15
Stefan Brampeter legte den Telefonhörer auf die Gabel. Trotz seines dröhnenden Schädels hatte er eben mit der Försterei ein gutes Geschäft in Gang gebracht. Bei den Abholzungen der letzten Woche waren einige fette Stämme aufs Waldlager gekommen. Man hatte ihm angeboten, sich ein paar Hölzer auszusuchen. «Für ’n Appel und ’n Ei», hatte Achim, der Leiter des Horner Forstamtes, versprochen. Und: «So ’ne Qualität musste lange suchen.» Sie hatten einen Termin für die kommende Woche vereinbart. Einer der Angestellten würde ihm noch heute den Lagerschlüssel vorbeibringen, damit er sich am Nachmittag die Stämme schon mal anschauen und bei Bedarf eine Markierung anbringen konnte. So würde er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Bei einem Marsch durch den Wald viel frische Luft tanken – genau das Richtige für seinen Kopf – und neuen Vorrat für die Werkstatt besorgen. Es war ein feiner Zug unter den Leuten hier. Erst einmal wurden die Menschen vor Ort gefragt, bevor die Ware nach sonst wohin verschachert wurde und die feinsten einheimischen Hölzer womöglich als Briefpapier endeten. Und wenn im nächsten Monat die Fachwerk-Renovierung der alten Sternklinik anstand, könnte er mit Sicherheit dort einiges von dem Holz gebrauchen.
Stefan blätterte sich durch das Auftragsbuch. Gott sei Dank galt es mehrere Seiten umzuschlagen. Trotz der wirtschaftlichen Depression in dieser Gegend hatte er noch immer genügend zu tun. Notfalls, wenn die interessanten Spezialaufträge ausblieben, könnte er auch noch Carports oder Gartenlauben bauen. Hauptsache, seine Hände hatten etwas zu tun. Er war ja sowieso nicht der Mensch, der Unmengen zum Leben brauchte. Wenn er nur einen Grund hatte, in der Werkstatt zu stehen, ging es ihm gut. Auch nach einer Zecherei wie gestern Abend. Und einer Nacht wie der letzten.
Das Holzrad stand bereits wieder bei den anderen, zum Glück in unversehrtem Zustand. Stefan Brampeter hatte es heute früh aus dem Lindenhof geholt, sobald er sich sicher war, dass er niemanden mehr aus dem Schlaf klingelte. Nun wollte er noch ein bis zwei
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