Die Wacholderteufel
vor elf Jahren passiert, soweit sich Norbert Paulessen erinnern konnte. Da vor dem Herbst bekanntlich der Sommer kam, musste er sich erst durch eine dicke Papierschicht Sommersonnenwende und die Unruhen an den Externsteinen arbeiten. Damals hatten sich noch die Neonazis am 21. Juni zum Feiern getroffen, bis die Einsatzleitung in Detmold mit groß angelegten Maßnahmen diesen braunen Gelagen einen Riegel vorgeschoben hatte. Eine unschöne Geschichte, von der heute in Bad Meinberg niemand mehr sprechen wollte, weder im Laden noch an der Tankstelle, noch sonst wo. Totgeschwiegen. Zu Recht, dachte Norbert Paulessen. Hatte Ulrich Brampeter nicht sogar bei den Braunen, die sich Teufelskinder nannten, mitgemacht? Nicht gerade in den ersten Reihen, schließlich arbeitete er als Angestellter im öffentlichen Dienst, aber wenn Paulessens Erinnerung ihn nicht gänzlich trog, war Ulrich Brampeter doch unter der Hand mit von der Partie gewesen.
Dann fielen ihm die Unterlagen, nach denen er gesucht hatte, in die Hände. Im Ordner waren nur wenige Kopien zu finden, da das Unglück noch im Detmolder Stadtbezirk geschehen war und somit die dortigen Kollegen mit dem Fall betraut waren. Hier lagen nur zwei Zeitungsartikel, die nichts Neues berichteten, ein Foto bestätigte Paulessens schemenhafte Erinnerung vom Unfallopfer: Das Bild zeigte einen beleibten, feisten Kerl mit Glatze und Muskelshirt. Dann die abgeheftetenTodesanzeigen der Familie Brampeter, des Schützenvereins, der Grundschule Bad Meinberg und der Gemeindeverwaltung, wo Ulrich Brampeter nach dem Realschulabschluss seine Ausbildung als Verwaltungsfachangestellter absolviert hatte. Ganz hinten zwei Durchschläge von Zeugenbefragungen, die der damalige Kollege hier in Bad Meinberg vor Ort zur Sache aufgenommen hatte. Dies kam nur vor, wenn die Aussagen als nicht ganz so wichtig eingestuft wurden oder die Zeugen aus irgendwelchen Gründen nicht nach Detmold reisen konnten. Paulessens Vorgänger hatte den Chef des Unfallopfers befragt, nichts Relevantes, es reichte, den Bericht zu überfliegen. Margret Brampeter, Ulrichs Mutter, wurde hingegen recht ausführlich befragt. Paulessen wusste nicht, ob die Dame schon damals so unglaublich dick und deswegen nicht «transportfähig» gewesen war, oder ob man die Mutter des Opfers einfach hatte schonen wollen und sie nur deshalb einem Verhör in der gewohnten Umgebung unterzogen hatte. Er schenkte sich eine Tasse Kaffee aus der Thermoskanne ein und packte die Weißbrotstulle aus, die seine Frau ihm heute Morgen nach Wunsch belegt hatte. Eine elf Jahre alte Polizeiakte – noch mit Schreibmaschine geschrieben und an einigen Stellen mit Tipp-Ex korrigiert – als Frühstückspausenlektüre. Norbert Paulessen lehnte sich in den quietschenden Bürostuhl zurück und nahm sich in Acht, das Papier nicht mit der guten Butter zu beschmieren.
Vernehmungsprotokoll Margret Brampeter vom 29. September 1994, 15.30 Uhr
Ort der Vernehmung: Wohnstube der Zeugin im Fliederweg/Bad Meinberg
Anwesend: Margret Brampeter als Zeugin (Z), ihr Ehemann Gernod Brampeter, derzeit krank und nicht vernehmungsfähig
Vernehmung geführt von Heinz-Dieter Hageloh (P), Polizeidienststelle Bad Meinberg, i. A. Dezernat für Verkehrsunfälle in Detmold
P: Frau Brampeter, was haben Sie über den bisherigen Unfallhergang gehört?
Z: Ich weiß nur, was die Polizei mir in der Unfallnacht mitgeteilt hat und was man hier im Ort so erzählt:
Mein Sohn hat letzten Freitag auf dem Discoparkplatz gestanden oder gesessen, und die Janina Grottenhauer hat ihn mit seinem eigenen Wagen überrollt. Das war vor einer Woche. Ganz früh morgens rief das Krankenhaus an, dass er um halb sechs gestorben ist, ohne das Bewusstsein wieder erlangt zu haben.
P: Frau Brampeter, fuhr Ihr Sohn Ulrich einen Honda Accord, Baujahr 1990, Farbe Rot?
Z: Das Auto von meinem Sohn ist rot. Ich weiß nicht, welche Marke, damit kenne ich mich nicht aus. Es ist ein schnelles Ding.
P: Ihr Sohn hatte einen stark erhöhten Alkoholpegel und war fahruntauglich. Stattdessen ist die sechzehnjährige Janina Grottenhauer, die noch nicht im Besitz eines Führerscheins ist, gefahren, zumindest das kleine Stück aus der engen Parklücke heraus. Kennen Sie dieses Mädchen?
Z: Nein, nicht persönlich. Aber sie ist eine Schlampe. Macht schon mit erwachsenen Männern rum, dabei ist sie noch nicht mal trocken hinter den Ohren.
P: Waren Frau Grottenhauer und Ihr Sohn denn ein Paar?
Z:
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