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Die Wacholderteufel

Die Wacholderteufel

Titel: Die Wacholderteufel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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wippte auf dem Tisch herum, der eigentlich ein Felsen sein sollte. Sie hatte sich mit Lippenstift den Mund gefärbt, als sei es das wichtigste am ganzen Theaterspiel, dass sie sich endlich mal schminken durfte.
    «O Mann, Mattis, du bist aber auch zu blöd», keifte sie. «Zulieben eine Jungfrau rein, die wartend saß auf kaltem Stein. Und nochmal: Zu lieben eine Jungfrau rein, die wartend saß auf kaltem Stein. Kapiert?»
    Alte Zicke, dachte Mattis. So toll, wie der Unterricht gestern begonnen hatte, so ätzend war er heute. Den ganzen Morgen schon, seit seinem zu späten Erscheinen in der Schule, übten sie an diesem komischen Theaterstück, mussten altmodische Sachen auswendig lernen und zerknitterte Gardinen als Umhang tragen. Es machte überhaupt keinen Spaß. Er seufzte.
    «Zu lieben eine Jungfrau rein
    die wartend saß auf kaltem Stein.»
    Jetzt war erst einmal für eine Weile Ruhe. Er war erst wieder gegen Ende des Stückes dran. Nun kam Joy-Michelles große Stunde. Sie riss die Augen auf und starrte in die Luft. Normalerweise sollte sich ihr in diesem Moment ein unheimlicher Teufel nähern, aber da Frau Möller nur mit verstellter Stimme den Text las, musste das Mädchen seine ganze Phantasie einsetzen: «Was willst du, Fremder, sag es mir!»
    «Will deine Liebe, gib sie mir.»
    «Ich bin noch jung, noch rein und weiß.»
    «Ich zahle dafür guten Preis.»
    «Du kannst nicht kaufen meine Liebe.»
    «Und du nicht stoppen des Teufels Triebe.»
    «Ist das nicht ganz schön starker Tobak?», fragte Mattis dazwischen. «Ich meine, ich weiß doch genau, worum es da geht. Der alte Kerl will was von dem jungen Mädchen. Ist das nicht verboten?»
    Joy-Michelle, die sich schon ziemlich schauspielerisch auf den Tisch gelegt hatte, quälte sich wieder in Sitzposition. «Mattis, was soll das? Das ist doch nur Theater.»
    Mattis hatte aber keine Lust, es auf sich beruhen zu lassen. «Ich weiß von meiner Mutter, dass man ganz vorsichtig sein muss, wenn Erwachsene was von einem wollen. Das hat sie mirtausendmal gesagt. Und dann sollen wir so einen   …» Beinahe hätte er Scheiß gesagt. «…   so einen Mist spielen. Was ist, wenn kleine Kinder zugucken?»
    «Das ist aber doch gar nicht in echt!», entgegnete Joy-Michelle.
    Frau Möller hatte sich die ganze Zeit über zurückgelehnt und die beiden streiten lassen. Jetzt holte sie Luft. «Im Prinzip hast du absolut Recht, Mattis!» Sie kramte wieder das dicke alte Buch hervor und schlug die Seite mit dem Wacholderteufel auf. «Es gibt da immer so ein Problem mit den Märchen, die wir uns erzählen. Die sind ja größtenteils schon sehr alt und werden seit vielen Generationen erzählt und aufgeschrieben. Und da sind oft recht grausame Sachen dabei. Ich erinnere nur an Rotkäppchen   …»
    «Da frisst der Wolf die Großmutter und das Mädchen!», wusste Joy-Michelle.
    «Und hinterher schneidet der Jäger dem Tier den Bauch auf, holt die Weiber raus und steckt stattdessen Steine rein», ergänzte Mattis.
    «Und?», fragte Frau Möller. «Ist das nicht auch grausam?»
    Natürlich hatte die Lehrerin nicht Unrecht. Aber komisch, irgendwie konnte Mattis nicht umhin, diese Wacholderteufelstory war trotzdem eine andere Kiste. Sie drückte ihn nieder, diese Sache mit dem Mann, der sich über das kleine Mädchen hermachte. Sie erinnerte ihn an etwas.
    «Die Geschichte vom Wacholderteufel ist sicher ebenso alt wie das Märchen von Rotkäppchen, nur nicht so bekannt, weil sie nicht von den Gebrüdern Grimm niedergeschrieben wurde. Aber hier im Teutoburger Wald gibt es einige Menschen, die sie kennen, seit sie klein sind. Die Sage gehört zu dieser Gegend, zu den Externsteinen und zum Teutoburger Wald. Es ist wichtig, dass man sie am Leben erhält, auch wenn sie nicht so berühmt und ein wenig grausig ist. Wegen der Tradition.» Frau Möllerklappte das Buch wieder zu und lächelte ihre winzige Schulklasse an. «Weiß einer von euch, was Tradition ist?»
    Joy-Michelle wusste es ein bisschen, und Frau Möller hielt eine lange Rede über diese Sache mit den Geschichten der Vergangenheit und so weiter. Doch Mattis hatte längst abgeschaltet. Er dachte an zu Hause. An Bremen.
    An Hartmut, den Mann seiner Mutter, der nicht sein Vater war. Hartmut Pelikan war auch ein alter Kerl. Und er war auch ein Teufel. Das war es eben, was ihn an diesem Theaterstück so störte. Es erinnerte ihn an das Leben zu Hause. An die Dinge, von denen er eigentlich nichts mitbekommen sollte – an die Gründe,

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