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Die Wacholderteufel

Die Wacholderteufel

Titel: Die Wacholderteufel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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Farben,Tuschkästen und Buntstifte, dazu drei verschiedene Papierblöcke. Wortlos legte er alles auf einen Tisch, der vor dem bis zum Boden reichenden Fenster stand.
    «Was soll das jetzt werden?», fragte Wencke.
    «Ich habe eine Ausbildung zum Kunsttherapeuten. Es gibt viele Menschen wie Sie, die Schwierigkeiten haben, mit ihren Ängsten und ihrer Wut umzugehen. Meist resultiert das aus einer tief sitzenden Furcht, sich selbst und die Lebenssituation zu reflektieren. Der Einsatz von Farben und Formen kann diese Blockaden lösen.»
    Wencke erstarrte. Er hatte ihren wunden Punkt gnadenlos erwischt. Formen und Farben und der ganze Kram. Sie spürte den aufkeimenden Widerstand in ihrem Inneren, als würden alle Nerven den Aufstand proben, auf die Barrikaden gehen. Sie blieb sitzen.
    «Lassen wir es wenigstens auf einen Versuch ankommen? Sie müssen keinen Rembrandt zaubern. Niemand außer mir wird Ihr Bild zu Gesicht bekommen. Es dient nur als Transformator Ihrer Empfindungen.» Er schaute sie an, ließ ihr ein wenig Zeit, strich auffordernd mit der Hand über das weiße Papier. Als Wencke sich jedoch nach einer Minute noch immer nicht rührte, hakte er noch einmal nach. «Wenn Ihre Mutter die Malerin Isa Tydmers ist – deren Arbeiten ich übrigens schon mal im Kestner-Museum in Hannover bewundern durfte   –, dann dürften Ihnen Pinsel und Leinwand doch nicht gerade fremd sein. Oder? Fangen wir mit einem Baum an.»
    Wenckes Mutter war Künstlerin, und die Probleme, die für Wencke damit zusammenhingen, hatten sie gestern auf der Sitzung bis ins Detail erörtert. Ihre Familie hatte einer Künstlerkolonie in Worpswede angehört, Wencke war zwischen Farbtöpfen und kreativen Krisen groß geworden. Und sobald sie alt genug gewesen war, hatte sie sich nach dem Abitur für ein anderes Leben entschieden. Für Protokolle und Beamtenstatus,für Uniform und Hierarchie. Seitdem hatte sie keinen Pinsel mehr in der Hand gehalten.
    Doch warum sollte sie nicht einfach mal einen Baum malen? Es gelang ihr, ihren inneren Schweinehund zu überwinden. Sie setzte sich auf den Holzstuhl, an dessen Lehne und Sitzfläche die unterschiedlichsten Farbkleckse verewigt waren. Zu Hause hatte es nur solche Möbel gegeben. Bunt und individuell, wie im Bastelraum eines Kindergartens. Und Wencke hatte sich manches Mal einen sterilen Plastikstuhl gewünscht und feste Essenszeiten dazu.
    Sie entschied sich für Wasserfarben und den mittelgroßen Malblock. Ein Baum war nicht besonders verfänglich. Sie wusste genau, worauf es ankam, sie durchschaute die Psychologie dieses Spiels ohnehin. Mit gekonnter Beiläufigkeit drehte sie das Blatt hochkant. Feste Wurzeln waren wichtig, sonst würde Vilhelm bemerken, dass sie selbst ziemlich unsicher war, wohin sie eigentlich gehörte. Ein gerader Stamm, der Zielstrebigkeit verkörperte, davon abgehend wie die Finger einer Hand fünf Äste, die in Zweigen und Blättern endeten. Der Vollständigkeit halber pinselte Wencke noch ein Astloch und ein paar Äpfel auf das Bild. Denn ihr war rechtzeitig in den Sinn gekommen, dass sie als Schwangere die Fruchtbarkeit des Baumes herausstellen sollte, wenn sie nicht wieder nach ihrem Verhältnis zum Muttersein befragt werden wollte. Dann gab es nichts mehr zum Malen. Es hatte nicht lange gedauert und auch nicht wehgetan. Sie hängte das Werk an die große Pinnwand gegenüber dem Schreibtisch und betrachtete es aus der Entfernung. Schlecht sah es nicht aus, und es war alles dran, was zu einem anständigen Baum gehörte. Laut Wanduhr blieben noch zehn Minuten bis zum Ende der Sitzung. In dieser Zeit würde es Vilhelm sicher nicht gelingen, aus diesem Gemälde etwas Brauchbares zu interpretieren. Und dann hätte sie endlich genug Zeit, sich um Nina Pelikans Verschwinden zu kümmern.
    «Beschreiben Sie Ihren Baum», sagte Vilhelm schlicht.
    Wencke stellte sich so hin, wie die vielen Menschen immer vor den Bildern ihrer Mutter gestanden hatten, die in ihrem Wohnzimmer, in ihrer Küche, im Flur und sogar im Badezimmer ausgestellt gewesen waren. Wencke hatte sich das Zuhause nicht selten mit irgendwelchen Kunstinteressierten teilen müssen, die mit schräg gestelltem Kopf und Daumen am Kinn durch die Wohnung geschlichen waren auf der Suche nach einer kaufbaren «Tydmers».
    «Ich finde ihn schön.»
    «Können Sie mir sagen, warum Sie ihn so gemalt haben und nicht anders?»
    «Ja, na klar. Er ist also einfach ein fester, stabiler Baum, der ordentlich Früchte trägt und sich

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