Die Wacholderteufel
weswegen seine Mutter ihn abends immer im Zimmer einschloss, aus lauter Fürsorge, wie sie sagte.
Ein alter Mann und ein junges Mädchen. Ein starker Wille und eine schwache Abwehr. Und diese Drohungen, die dazwischen hingen wie tiefe, fette Gewitterwolken.
18
«Frau Tydmers, wissen Sie noch, worüber wir gestern gesprochen haben? Können Sie sich noch daran erinnern? Mir scheint, all Ihre Erkenntnisse und guten Vorsätze sind vom Tisch gefegt.»
Ilja Vilhelm drehte sich auf seinem Bürostuhl einmal um sich selbst. Wahrscheinlich, weil ihm ein schlichtes Kopfschütteln zu mager erschienen wäre angesichts seines Unmutes über Wenckes Verhalten.
«Ich mache mir Sorgen um Nina Pelikan. Verstehen Sie nicht? Das hat rein gar nichts mit der Sache zu tun, von der ich Ihnen gestern erzählt habe.»
«Seien Sie ehrlich: hat es doch!»
Wencke saß ihm wütend gegenüber. Sie hatte sich heute bewusst für die härteste Sitzgelegenheit entschieden. Sollte er doch gleich interpretieren, dass sie es darauf anlegte, unbequem zu werden. Es wollte ihr nicht in den Kopf, warum Ilja Vilhelm das Thema Nina Pelikan vermied. «Es ist freundschaftliches Interesse. Die Frau ist die Einzige hier, die mir ein wenig nahe steht, abgesehen von ihrem Sohn. Ist es da nicht normal, dass ich mir Gedanken mache, wenn sie einfach von der Bildfläche verschwindet?»
«Sehen Sie? Und nun haben Sie den Bad Meinberger Ordnungshüter informiert, er befasst sich vielleicht schon mit dem Fall, sofern es überhaupt so etwas wie einen Fall gibt. Vor diesem Hintergrund sehe ich umso weniger Veranlassung, warum Sie sich auch noch einmischen sollten.»
Trotzig schaute Wencke zum Fenster hinaus. Er hatte ja Recht. Und sie wusste ja zu gut aus leidlicher Berufserfahrung, wie hinderlich Möchtegerndetektive bei polizeilichen Ermittlungen sein konnten. Trotzdem hatte das zufällige Zusammentreffen mit dem netten Kollegen vor der Klinik in ihr eine Energie freigesetzt, die sie nicht zu zügeln vermochte. Es machte sie stark, wie es zehn Stunden Fußreflexzonenmassage und hundert Liter Kneipp’sche Güsse nicht vermocht hätten. Es machte sie gesund und fit.
«Sie werden noch krank werden, Frau Tydmers», sagte Ilja Vilhelm.
«Zerbrechen Sie sich denn nicht den Kopf darüber, warum Nina Pelikan heute Morgen weder in ihrem Zimmer noch bei der Therapiesitzung war? Immerhin ist letzte Woche schon eine Ihrer Patientinnen von den Externsteinen gesprungen.» Langsam fiel es ihr schwer, die Wut auf die Ignoranz der Klinikleitung zu unterdrücken. Am liebsten wäre sie aufgesprungen, hätte sich direkt vor ihn gestellt, ihn grob an den Schulterngefasst und wachgerüttelt. Stattdessen blieb sie sitzen, atmete kurz und flach, als sei sie gerannt, und die Worte kamen nur gepresst zwischen ihren Lippen hervor: «Ich verstehe nicht, warum Sie so gelassen hier sitzen können!»
«Weil ich arbeiten muss, und weil jetzt nicht Frau Pelikan oder sonst wer in meinem Sprechzimmer sitzt, sondern Sie, Frau Tydmers.» Er blieb ruhig, obwohl Wencke ihn angefahren hatte, wie sie in den hitzigsten Momenten im Auricher Polizeirevier ihre Kollegen anfuhr. Sie konnte nichts dagegen tun: Männer wie diese, Typen wie Ilja Vilhelm und Axel Sanders, brachten sie nun mal zur Weißglut. Vor allem, wenn sie Recht hatten. Sie beugte sich nach vorn, legte die Hände flach auf den Schreibtisch und funkelte ihn an. Sie konnte es nicht verhindern, es musste einfach sein. Er blickte ungerührt zurück, hörte sogar mit dem ewigen Bürostuhlgedrehe auf. Dann lächelte er.
Das war zu viel! Wenckes Hände stoben auseinander, irgendwie von selbst, sie wischte gleich einen ganzen Stapel Infobroschüren über die Rechte allein erziehender Mütter auf den Boden. Die kopierten Faltblätter über Angststörungen flogen in hohem Bogen hinterher. Das tat gut! Wencke atmete jetzt wieder normal.
«Passiert Ihnen das öfter?», kommentierte er knapp. Dann stand Ilja Vilhelm ungerührt auf, ließ die zerstreuten Papiere, wo sie waren, und nahm einen kleinen Schlüssel aus der Schublade seines Schreibtisches. Wortlos schloss er damit einen Rollschrank auf und zog daraus eine recht dünne, rote Mappe, auf deren Umschlag Wencke ihren Namen erkennen konnte. Er überflog ein paar Zeilen, als müsse er sich auf diese Weise das Gespräch von gestern ins Gedächtnis rufen. «Vielleicht versuchen wir es mal mit malen», sagte Vilhelm schließlich.
«Wie bitte?»
Er stand auf und holte aus einem Schrank mehrere
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