Die Wächter Edens
»Sentimentalität.« Er blickte sie plötzlich durchdringend an und Arienne wich unbewusst einen Schritt zurück. »Sag mal …«, setzte er an und hielt mitten im Satz inne, »… ist es wahr?«
»Ist was wahr?«, fragte Arienne in dem Versuch, Zeit zu schinden, und wappnete sich innerlich gegen das Unausweichliche.
»Die Sache mit deinem Unfall.« Tom sprach plötzlich sehr leise. »Man sagt, du wärst dabei fast gestorben?«
Sie bemerkte, wie ihr Blick unstet wurde, als suchte sie verzweifelt nach einer Fluchtmöglichkeit. »Ist es das, was man sich erzählt? Ein Unfall, ja?«
Toms Reaktion, wie er betreten den Kopf zum Boden senkte, verriet ihr mehr, als sie wissen wollte.
»Ja, die Geschichte stimmt«, gab Arienne schließlich zu.
»Und du hast wirklich im Koma gelegen?«
»Vier Monate, ja.« Gleich würde sie kommen, die Frage nach dem Warum und Wie. Und dann würde sie wieder alle Fakten herunterrattern. Mechanisch, ohne jede Emotion, als wäre die ganze Sache einem Fremden widerfahren.
Doch Tom überraschte sie erneut: »Wie fühlt es sich an?«
Die Frage traf sie derart unvorbereitet, dass sie ihn einen Moment mit offenem Mund anstarrte. »Wie fühlt sich was an?«
»Sterben«, sagte er leise. »Ich frage mich, wie es ist.«
Arienne schluckte schwer. »Es war … leicht.«
»Leicht?«
»Ich meine nicht den Teil, als ich mir die Pulsadern aufgeschnitten habe«, versuchte sie die Situation zu entspannen, doch keiner von ihnen konnte darüber lachen.
In Gedanken starrte sie wieder auf die Ecke der kleinen U-Bahn-Toilette, zählte die Risse in den grauen Fugen zwischen den weiß glänzenden Fliesen. Zweiundzwanzig kleine Makel hatte sie ausgemacht, bevor sie das Bewusstsein verloren hatte. Zweiundzwanzig Risse für zweiundzwanzig Jahre … , dachte sie. Und dann …
»In dem Moment, als ich mein Bewusstsein verlor … da fühlte ich … ich fühlte mich einfach irgendwie leicht. Als würde ich fliegen.«
»Und dann?« Tom hörte ihr aufmerksam zu.
Arienne zuckte mit den Schultern. »Mir wurde kalt. Und es war dunkel.«
»Man sagt, du hast dort fünfzehn Minuten ohne Pulsschlag gelegen?«, hakte Tom nach. Selbst jetzt konnte er den Reporter in sich nicht ganz ablegen.
»Ich weiß es nicht«, gestand Arienne. »Alle Ärzte haben mir immer wieder versichert, dass ich eigentlich nicht mehr am Leben sein dürfe.« Sie lachte trocken. »Ziemlich beknackt, das jemandem zu sagen, der gerade beim Suizidversuch gescheitert ist.« Sie zuckte erneut die Achseln. »Ich weiß noch, wie ich immer tiefer hinabglitt. Und dann war da plötzlich ein warmes goldenes Licht.«
»Das Ende des Tunnels?«
Sie schüttelte den Kopf. »Im Gegenteil. Irgendwo, in dem letzten Rest Bewusstsein, den ich noch aufbringen konnte, wusste ich, dass das Licht nicht das Ende ist. Ich versuchte am Anfang sogar davor zu fliehen … Es fühlte sich an wie in meiner Kindheit, wenn mein Vater mich in den Arm nahm … Verrückt, nicht wahr?«
Tom schüttelte den Kopf. »Auf mich wirkst du sehr klar bei Verstand.«
»Wer weiß? Vielleicht hat er ja seine schützende Hand über mich gehalten?« Sie hatte es nicht bemerkt, aber Tränen rannen ihr über die Wangen und von Zeit zu Zeit drang ein leises Schluchzen über ihre Lippen.
»Eine schöne Vorstellung«, pflichtete Tom ihr bei. »Ist dein Vater …«
»… tot«, bestätigte Arienne und er nickte bedauernd. »Ja, schon lange. Ich war noch klein. Viereinhalb. Mein Vater war auf dem Heimweg von seiner Arbeit. Da wurde er Zeuge eines Autounfalls. Ein Besoffener ist in eine junge Mutter reingekracht. Mein Vater hat die Mutter und ihre beiden Kinder aus dem Wrack gezogen. Doch als er noch mal zurückwollte, um dem Verursacher zu helfen, da ist wohl eine Benzinleitung gebrochen und der Treibstoff hat sich entzündet«, ratterte Arienne mechanisch die Geschichte runter, wie sie im Polizeibericht stand. »Er hatte keine Chance. Aber wenigstens musste er nicht leiden.«
»Ich weiß nicht, aber vielleicht ist es dir ein kleiner Trost, dass dein Vater ein wirklich guter Kerl war, wie du das erzählst.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Kann schon sein, aber sag das mal einem kleinen Mädchen … Ich stand wohl derart unter Schock, dass ich wochenlang behauptet habe, dass er in meinem Zimmer sitzen würde …«
Ein unbehaglicher Moment des Schweigens breitetesich über ihnen aus, in dem Arienne versuchte, sich das Bild ihres Vaters wieder vor Augen zu führen, aber es wollte ihr nicht
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