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Die Wälder am Fluss - Lansdale, J: Wälder am Fluss - The Bottoms

Die Wälder am Fluss - Lansdale, J: Wälder am Fluss - The Bottoms

Titel: Die Wälder am Fluss - Lansdale, J: Wälder am Fluss - The Bottoms Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe R. Lansdale
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direkt über mir. Es sah aus, als würde es größer, das Loch in Moses Schuh wurde immer größer, es sog mich auf – und dann war ich darin verschwunden.
    *
    Als ich zu mir kam, war Daddy immer noch bewusstlos. Er lag neben mir auf dem Boden. Mose hing über uns, seine Zunge hing ihm aus dem Mund, lang und schwarz und wie ein mit Papier ausgestopfter Strumpf. Seine Augen waren aus dem Kopf getreten wie kleine grüne Kaki-Früchte. Jemand hatte ihm die Hosen heruntergezogen und ihn kastriert. Blut tropfte aus der Wunde auf die Erde.
    Die Leute waren alle weg.
    Ich erbrach mich, bis nichts mehr in mir war. Zwei Hände fassten mich in die Seiten. Ich glaubte, die Leute seien zurückgekommen, um Daddy und mich aufzuhängen oder uns weiter zu verprügeln. Dann hörte ich Mr. Smootes Stimme. »Schon gut, Junge«, sagte er, »schon gut.«
    Er versuchte, mir aufzuhelfen, aber ich konnte nicht stehen. Er ließ mich im Gras sitzen und besah sich Daddy. Er drehte ihn auf den Rücken und zog eins seiner Augenlider hoch.
    »Sie sind schuld«, schrie ich. »Fassen Sie meinen Daddy nicht an, verstanden? Fassen Sie ihn nicht an!«
    Er ignorierte mich, und plötzlich war ich froh um seine Hilfe. Ich fragte: »Ist er …?«
    »Er ist in Ordnung. Hat nur ordentlich was abgekriegt.«
    Daddy bewegte sich. Mr. Smoote half ihm, sich aufzusetzen. Daddy öffnete die Augen.
    »Der Junge hat’s erzählt, nicht ich«, sagte Mr. Smoote. »Ich bin mit hergekommen, aber ich wollt nicht, dass was passiert. Ich hab nicht mitgeholfen, ihn aufzuhängen. Sie werden doch nichts weitersagen von … Sie wissen schon, nicht wahr, das werden Sie doch nicht?«
    »Sie widerlicher schwachsinniger Hurensohn«, sagte Daddy. Dann sah er Mose an. »Um Gottes willen, Bill«, sagte er, »nehmen Sie ihn da runter.«

16.
    Zwei Nachmittage später begruben wir Mose bei uns, zwischen der Scheune und dem Feld. Daddy machte ihm ein Kreuz aus Holz, schnitze MOSE hinein und schwor, sobald er Geld habe, werde er ihm einen Stein kaufen.
    Ein paar Farbige, von denen Daddy wusste, dass sie Mose kannten, kamen zur Beerdigung, aber die einzigen Weißen waren wir. Es gab ein paar Leute, die mit dem, was man Mose angetan hatte nichts zu tun haben wollten, aber sie wollten nicht auf der Beerdigung eines Farbigen gesehen werden.
    *
    In der Nacht, als ich meine Augen schloss, sah ich Mose hängen, mit heruntergelassenen Hosen, verwundet, blutend, mit geschwollener Zunge, hervortretenden Augen und der Schlinge um den Hals. Es würde einige Zeit dauern, bis dieses Bild mich nicht mehr ansprang, sobald ich die Augen zumachte – und Jahre, bis es mich nicht mehr in regelmäßigen Abständen heimsuchen würde. Kleinigkeiten ließen mir das Bild in den Kopf schießen: ein herumliegendes Seil zum Beispiel, ein bestimmter Ast an einer Eiche, manchmal sogar die Art, wie das Sonnenlicht durch die Äste und Blätter fiel.
    Sogar jetzt, von Zeit zu Zeit, kommt es zu mir zurück; so deutlich, als sei es erst vorgestern passiert.

Vierter Teil

17.
    Von meinem Fenster aus kann ich eine große Eiche sehen. Eines Abends, im Frühling, als ich im Rollstuhl vor dem Fenster saß und hinaussah, als die abendlichen Schatten herabfielen wie ein Wirrwarr aus schwarzem und rotem Stoff, als die Vögel sich zum Schlafen auf den Zweigen niederließen wie Christbaumschmuck, dachte ich, ich sähe den alten Mose dort hängen.
    Sein Körper sah sehr echt aus in diesem Moment, ein leise schaukelnder Schatten neben anderen Schatten, aber es waren eindeutig seine Umrisse, und außerdem war da die dunkle Linie des Seils. Aber als ich blinzelte, waren er und das Seil verschwunden.
    Jetzt waren da nur noch die Schatten der Bäume, in denen die Vögel saßen; da war die Nacht, die herabfiel, und ein weiterer Frühlingstag, der langsam versickerte.
    Dann waren auch keine Schatten mehr da und dann nicht einmal mehr Bäume.
    *
    Daddy wollte seine Arbeit als Constable an den Nagel hängen, aber das wenige Geld, das der Job einbrachte, brauchten wir so dringend, dass er dabeiblieb – allerdings schwor er, wenn etwas Derartiges noch einmal vorkäme, würde er sofort aufhören.
    Eigentlich jedoch hatte er bereits aufgehört. Er war nur noch dem Titel nach der Constable. Es war, als würde Daddy vor unseren Augen verfallen; er war in ein dunkles, tosendes Meer geschwemmt worden, und dort strampelte er sich ab – und hörte irgendwann auf zu kämpfen, trieb dahin auf einer morschen Planke, die vom Wrack seines Lebens

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