Die Wahrheit der letzten Stunde
mit seinem Producer und Kamerateam, dass sie sie bei der Landung in Kansas City erwarten sollen.
Ihre Kehle ist wie zugeschnürt von den aufsteigenden Tränen. Ihr großartiger Plan ist gescheitert, noch bevor er richtig angefangen hat.
Eine ganze Minute, nachdem Mariah White wie ein verschrecktes Kaninchen aus der Ersten Klasse geflüchtet ist, überlegt Ian ernsthaft, ob er James Wilton anrufen und die Meute auf ihre Spur ansetzen soll. Er geht sogar soweit, eine Kreditkarte zu zücken und die Air-Phone-Instruktionen zu lesen, aber dann fällt ihm wieder ein, warum das, was er vorhat, schlicht unmöglich ist. Das Letzte, was er will, ist Medienrummel in einem Umkreis von hundert Meilen um Michael.
Mariah White ahnt zwar nichts davon, aber sie hat ihn ebenso in der Hand wie er sie.
Ian leert seinen Bourbon und bedeutet der Stewardess, ihm einen zweiten zu bringen. Am einfachsten ist es, so zu tun, als verhielte es sich tatsächlich so, wie Mariah glauben muss: Er wird vorgeben, ihr von New Canaan zum Flughafen gefolgt zu sein, damit sie gar nicht erst darauf kommt, sich darüber zu wundern, ihn in einem Flugzeug nach Kansas City angetroffen zu haben. Dass er ihre Geheimnisse kennt, ist eine Sache; keinesfalls aber darf sie sein Geheimnis erfahren. Er wird vollständig umdisponieren müssen.
Ein Gedanke beginnt in Ians Kopf Formen anzunehmen. Was, wenn er ganz aus der Nähe zusehen könnte, wie Faith ihre ganz private Heilungsshow abzieht? Was, wenn er selbst die Person auswählt, an der sie eins ihrer angeblichen Wunder wirken soll, sodass sie gar nicht anders kann, als zu versagen? Die Mutter mit dem aidskranken Kind könnte irgendwie mit ihnen unter einer Decke gesteckt haben. Aber Michael… Niemand weiß besser als Ian selbst, dass Michael nicht Teil ihres Schmierentheaters ist… und dass es für ihn keine Heilung gibt.
Er braucht nur an ihr Mitgefühl zu appellieren, damit sie einwilligen, ihm den persönlichen Gefallen zu erweisen, zu versuchen, Michael zu heilen. Und während Faith White ihre Show abzieht, wird er sich sehr genau ansehen, wie sie vorgeht. Sogar Michaels Anonymität wird gewahrt; Mariah White wird nichts ausplaudern, das ihren eigenen Aufenthaltsort preisgeben würde.
Die lächerliche Vorstellung, wie Faith Michael die Hände auflegt im Rahmen ihres von ihrer Mutter choreographierten Auftritts, wird abgelöst von Wunschdenken, Bildern, die er so tief in seinem Inneren vergraben hat, dass es schmerzt, sie hervorzuholen: Michael, der ihm in die Augen sieht, Michael, der aus eigenem Antrieb die Hand nach ihm ausstreckt, Michael, der ihm bei einer Umarmung auf den Rücken klopft.
Ha … viel wahrscheinlicher war, dass Mariah White erklären wird, der Mond stehe nicht im richtigen Haus oder so etwas, wenn der Versuch ihres Wunderkindes, einen Autisten zu heilen, kläglich scheitert.
Wenn Ian an Vorsehung glauben würde, würde er jetzt denken, das Schicksal hätte die Whites in dieses Flugzeug geführt. Stattdessen betrachtet er diesen Zufall als eine willkommene Gelegenheit, die sich als Story seines Lebens entpuppen könnte. Er braucht nur Faith und ihrer Mutter weiszumachen, dass ein Zyniker wie er nicht unbedingt der Feind ist, dass er sogar seine ganze Hoffnung auf ein Kind mit angeblichen Heilkräften ausrichten kann, um an der Wunderheilung teilzuhaben und hinterher den am Boden Zerstörten zu spielen, wenn Faith versagt.
Aber wäre das wirklich nur Theater seinerseits?
Mariah ist nicht überrascht, dass Fletcher auf sie wartet, als sie das Flugzeug verlassen. Und es überrascht sie auch nicht, dass er sie völlig ignoriert — zugunsten von Faith. »Hallo«, begrüßt er diese mit schleppendem Akzent und hockt sich vor sie hin. »Seid ihr auch mit dieser Maschine hergeflogen?«
Faith’ Augen weiten sich. »Mr. Fletcher!«
»Leibhaftig.« Er richtet sich auf und nickt Mariah zu. »Ma’am.«
Mariah drückt Faith die Hand - eine Warnung. »Wir sind zu einer Hochzeit hergeflogen. Meine Kusine heiratet. Heute Abend.« Ihre Stimme ist zu hoch, zu schrill, und in dem Augenblick, da sie damit herausplatzt, könnte sie sich die Zunge abbeißen.
»Ach ja? Ich glaube, ich habe noch nie von einer Trauung gehört, die an einem Dienstagabend vollzogen wurde.«
Mariah hebt trotzig das Kinn. »Das … gehört zu Ihrer Religion.«
»Und davon scheint es ja in letzter Zeit eine Menge zu geben in Ihrem Leben.« Er lächelt auf Faith hinab. »Was meinst du, sollen wir unsere
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