Die Wahrheit des Blutes
die Dauergäste der Einrichtung konnte Passan nie vergessen. Die zahnlosen, irren Gesichter, die sich die Nasen an den Fensterscheiben plattdrückten und wie die Wilden masturbierten.
Fifi erschien. Er wirkte ziemlich durcheinander. Passan bemerkte seine erweiterten Pupillen und fragte sich, ob sein Partner nicht doch wieder zum Heroin gegriffen hatte, so wie andere Leute unter Stress wieder zu rauchen anfangen.
»Wie geht’s?«, erkundigte sich Fifi nervös.
»So lala.«
»Naoko meinte, du willst mich sehen.«
»Du musst mir einen Gefallen tun. Besorge uns ein Überwachungsfahrzeug.«
»Wozu?«
»Pack die ganzen Monitore hinein. Ich möchte nicht, dass Naoko die Bildschirme sieht. Ruf Super Mario an, der erledigt das.«
Trotz des Rauchverbots im Krankenhaus hielt Fifi eine brennende Zigarette zwischen den Fingern.
»Das verstehe ich nicht. Stellen wir die Überwachung jetzt nicht ein?«
»Ich brauche endgültige Sicherheit.«
»War der Besucher in deinem Haus denn nicht Guillard?«
»Ich weiß es einfach nicht. Als ich ihn da im Schneidersitz habe brennen sehen, wurde mir klar, dass er einfach nur nicht mehr konnte. Er hatte seinen ungeheuerlichen Körper satt, seinen Irrsinn, der ihn zum Mörder hat werden lassen, und auch die Angst, dass ich ihn früher oder später erwischen würde. Er wollte nur noch sterben. Und mich mit in den Tod reißen. Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, Naoko zu erschrecken. Und auch meine Söhne interessierten ihn nicht. Irgendwo hat diese Sache einen gewaltigen Haken.«
Fifi antwortete nicht. Offenbar fiel es ihm schwer, die neuen Informationen zu verdauen.
»Es gibt auch noch andere Unstimmigkeiten«, fuhr Passan mit seiner Glaspapierstimme fort. »Zum Beispiel die Daten. Die Blutentnahmen bei den Kindern haben vor mehreren Wochen angefangen. Lang vor dem Vorfall in Stains.«
»Schon klar. Aber Guillard hatte vielleicht schon früher Rachegedanken.«
»Aber das hätte nicht zu seiner vorsichtigen Art gepasst. Außerdem hatte er damals gerade Leila Moujawad in seine Gewalt gebracht und mit Sicherheit ganz andere Dinge im Kopf.«
»Also?«
»Wir setzen die Überwachung fort.«
»Solltest du nicht lieber umziehen?«
»Wenn jemand anders hinter dieser Sache steckt, hat es sicher nichts mit der Adresse zu tun. Gibt es etwas Neues von Levy?«
»Nichts. Entweder ist er längst über alle Berge, oder er betrachtet die Radieschen von unten.«
»Kannst du den Überwachungswagen besorgen?«
Fifi fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und inhalierte einen tiefen Zug. Seine Akne leuchtete feuerrot in den ersten Sonnenstrahlen, und seine Augen glänzten wie im Fieber.
»Das kriege ich schon irgendwie hin«, meinte er schließlich, öffnete das Fenster und schnipste die Kippe hinaus.
»Naoko darf nichts davon erfahren. Kann ich mich auf dich verlassen?«
»Das ist doch idiotisch. Ich bringe sie gleich heim. Dann sieht sie das Zeug doch.«
»Sag ihr, dass alles noch im Lauf des Vormittags abgebaut wird. Ab sofort findet die Überwachung außerhalb des Hauses statt, kapiert?«
Fifi nickte. Er wirkte nicht sonderlich überzeugt.
»Lass auch die Kamera in ihrem Zimmer abbauen. Ich möchte nicht, dass die Jungs meine Frau nackt sehen.«
»Sonst noch was?«
»Ja. Ich will zwei Bullen vor der Schule und zwei Typen, die Naoko beschatten – mit anderen Worten: Wir brauchen Verstärkung.«
»Ich kapiere es immer noch nicht. Machen wir wirklich weiter?«
»Ich darf nicht das geringste Risiko eingehen. Kann ich auf dich zählen?«
Fifi beugte sich über Passans Bett und drückte ihm die Schulter.
56
Fahrstreifen flogen vorbei. Straßen, Autobahnkreuze, Hängebrücken. Die leere Landschaft ließ an ein absurdes, unnützes Straßennetz denken, das nirgends hinführte und niemandem diente. Die aufgehende Sonne strahlte nicht, sondern glühte stumpf und verlieh den dünnen Schleierwolken einen braunen Tabakton. In der Ferne sah man weiße Häuser, ganze Ozeane verschwommener Wohnstätten und Wälder von Türmen, die sich wie brennende Bäume in den rötlichen Himmel reckten.
In Japan schienen Autobahnen immer einen Wald zu durchschneiden, sich durch Grüngebiete zu fressen und die Natur zu stören. Hier jedoch war das pflanzliche Leben schon lange tot. Die wenigen Bäume, die kleinen Rasenflächen und die kargen Gehölze erschienen eher wie Eindringlinge, die eigentlich gar nicht zur Landschaft gehörten.
Naoko bereute ihr Verhalten. Zumindest hatte ihr Auftritt die
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