Die Wahrheit des Blutes
länger dauerte, wobei die erste etwas weniger genau war. Passan war dieser Umstand bekannt. Er selbst hatte mehrfach Mörder mithilfe der ersten Methode festgenommen, um dann auf die Bestätigung durch die zweite zu warten. In seinem Fall allerdings genügte die kurze Variante.
Der Arzt und Zacchary verschwanden hinter einer Milchglasscheibe. Passan saß allein mit einem Pflaster in der Armbeuge an einem Resopaltisch. Absurderweise fiel ihm ausgerechnet jetzt ein, dass man Blutspendern üblicherweise ein Frühstück anbot. Allein schon bei dem Gedanken an Essen knurrte sein Magen.
Als sein Handy klingelte, verhedderte er sich zunächst in seinem Overall, schaffte es aber noch rechtzeitig, das Gespräch anzunehmen.
Fifi.
»Du hattest recht«, begann er ohne Einleitung. »Naoko hat ihr Handy nicht benutzt.«
»Hat sie im Krankenhaus telefoniert?«
»Sie hat sich gestern Abend um zehn nach sechs von einem Aufenthaltsraum für Jugendliche aus ins Internet eingeloggt. Zweimal. Alles auf Japanisch.«
»Dann müssen wir die Nachrichten eben übersetzen lassen.«
Fifi lachte.
»Ich habe die Korrespondenz bereits meinem Jiu-Jitsu-Lehrer vorgelegt. Er ist Japaner. Eigentlich ist es ein wahres Wunder, dass ich ihn überhaupt erreicht habe. Sonntags meditiert er nämlich, und …«
»Ja und?«
»Die erste war eine Verbindung zu JAL, wo sie die Flüge gebucht hat.«
»Und die andere?«
»Eine Nachricht an eine gewisse Yamada Ayumi. Oder Ayumi Yamada, wenn wir die Namen in der bei uns üblichen Reihenfolge nennen.«
Passan hatte diesen Namen noch nie gehört.
»Und was hat sie geschrieben?«, fragte er mit zitternder Stimme.
»Nur ein Wort. Ein Begriffszeichen.«
»Hat dein Lehrer es übersetzen können?«
»Es lautet: Utajima. ›Insel der Gedichte‹. Er glaubt, dass es sich um den Namen eines Ortes handelt. Und du, wo bist du?«
Passan sah sich in der sterilen Umgebung um.
»Das erkläre ich dir später. Ich rufe dich an.«
Er spürte, dass jemand hinter ihm stand. Isabelle Zacchary zog sich die Haube vom Haar.
»Weißt du, Passan, mein Leben ist ein ziemliches Durcheinander. Aber neben deinem nimmt es sich wie ein kitschiger Heimatfilm aus.«
»Spar dir deine Scherze. Was sagt die Analyse?«
Zacchary warf vier frisch ausgedruckte Diagramme auf den Tisch.
»Shinji und Hiroki sind deine Söhne. Und auch die von Naoko. Da gibt es keinerlei Zweifel.«
»Willst du mich verarschen? Ich habe dir doch gesagt, dass Naoko steril ist.«
Zacchary bedachte ihn mit einem pfiffigen Lächeln.
»Nein, Olive, das hast du nicht gesagt. Du hast mir erzählt, dass sie keinen Uterus hat. Das ist etwas ganz anderes.«
»Jetzt verstehe ich gar nichts mehr.«
»Naoko kann ihre Kinder zwar nicht austragen, was sie aber durchaus nicht daran hindert, welche zu haben. Steril ist sie nicht.«
Passan stützte seine Ellbogen auf den Tisch und vergrub das Gesicht zwischen den Händen. Wie ein Boxer, der in den Seilen hängt. Oder ein Mönch im Gebet. Sein Gehirn war wie eine schwarze Tafel, zu der er die Kreide verloren hatte.
»Es gibt eine Lösung für dein Dilemma«, fuhr Isabelle fort.
Er sah sie fragend an.
»Eine Leihmutterschaft.«
Die keimfreie Luft des Labors schien plötzlich dünner zu werden, als hätte Passan den Gipfel eines hohen Berges erreicht.
Plötzlich passte alles zusammen.
Der Affe im Kühlschrank, der wie ein Fetus aussah. Das Blut der Kinder in der Duschkabine. Die Schriftzeichen auf dem Schrank, die sowohl »es gehört mir« als auch »sie gehören mir« bedeuten konnte.
Isabelle Zacchary hatte recht. Naoko hatte sich zweimal einer Leihmutter bedient.
Und es war diese Mutter, die ihre Kinder zurückhaben wollte.
76
»Schau mal, auf Kanal fünf sind Spiele. Du brauchst nur die Fernbedienung zu drücken.«
Naoko sprach Japanisch mit Shinji. Vielleicht würde sie nie wieder auf Französisch mit ihm reden. Hiroki saß auf der anderen Gangseite und widmete sich hingebungsvoll einem Ausmalbuch, das die Flugbegleiterin ihm samt Farbstiften zur Verfügung gestellt hatte. Naoko hatte ein Glas Champagner bekommen. Sie ließen es sich gut gehen. Zumindest auf dieser Reise. Naoko hatte nicht geknausert und drei Plätze in der Business-Klasse gebucht, was sie ein mittleres Vermögen kostete. Ein guter Teil ihrer persönlichen Ersparnisse war dabei draufgegangen.
Aber das war ihr gleich. Ersparnisse sind etwas für Leute, die noch eine Zukunft vor sich haben.
Der Airbus A 300 der JAL flog jetzt auf
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