Die Wahrheit des Blutes
ziemlich schnell durch die Ermittlungsergebnisse widerlegt. Die im achten Monat schwangere Audrey Seurat war drei Tage zuvor von ihrem Ehemann vermisst gemeldet worden. Der Mann besaß ein wasserfestes Alibi. Man fand weder Anzeichen für einen Liebhaber noch irgendeinen anderen Verdächtigen in der Umgebung des Opfers. Als wahrscheinlichste Erklärung galt eine Entführung mit anschließender Tötung an einem unbekannten Ort. Der Mörder hatte Mutter und Kind in den Park der Wohnsiedlung bringen können, ohne auch nur von einem einzigen Zeugen beobachtet worden zu sein.
Der Staatsanwalt hatte die Kriminalpolizei mit den Ermittlungen beauftragt. Die heikle Aufgabe wurde Hauptkommissar Olivier Passan anvertraut. Passan hatte sofort geahnt, dass dieser Mord zum Fall seines Lebens werden könnte. Doch zunächst einmal musste er den Schock überwinden, den die Bilder vom Fundort bei ihm auslösten – die geradezu obszöne Zurschaustellung des nackten Frauenkörpers, das verkohlte Baby auf dem grünen Rasen, das blutige Fleisch in dem taufrischen Gras …
Aber sehr schnell hatte er sich wieder gefangen. Die unglaubliche Grausamkeit der Verstümmelung, der mysteriöse Tod der Mutter – trotz des aufgeschlitzten Bauchraums war sie laut Gerichtsmedizin an einer Vergiftung gestorben – und das völlige Fehlen von Indizien wie auch von Zeugen zeigten Passan, dass hier ein Mörder mit Nerven wie Stahlseilen am Werk gewesen sein musste. Ein Mensch, der dem Irrsinn verfallen, aber auch hervorragend organisiert war. Und der bei allem Wahnsinn äußerst penibel arbeitete.
Passan hatte sein Team gebrieft. Die Weisung lautete, bei null anzufangen, die Nachbarn zu befragen, die Geschichte des Opfers bis ins Detail zu recherchieren, die letzten Tage der jungen Frau zu rekonstruieren und in den Akten nach ähnlich gelagerten Fällen zu suchen. Die Schwierigkeiten ließen nicht lange auf sich warten. Die Befragung der Nachbarn ergab nicht den geringsten Hinweis. Obwohl die Wohnsiedlung nicht unbedingt zu den Brennpunkten des Departements 93 gehörte, wurden auch hier die Bullen nicht gerade mit offenen Armen empfangen. Was den Fundort anging, war die Ausbeute nicht viel besser. Keine wie auch immer gearteten Abdrücke, keine Spuren organischen Materials, keine Indizien. Und was die archivierten Akten anging, so waren sie samt und sonders auf Mikrofiches verfilmt.
Allerdings besaß die Polizeiwache des Viertels eine Überwachungszentrale, in der alle Videos, Funkgespräche und die Geotargetings der Streifendienste aufgezeichnet wurden. Doch auch hier ergab die Analyse der Angaben kein Ergebnis. Die meisten Kameras waren beschädigt, relevante Sachverhalte existierten nicht, und im gesamten Bezirk war in den Wochen zuvor nichts Verdächtiges registriert worden.
Möglicherweise besaß der Mörder einen eigenen Störsender, der es ihm gestattete, für zehn Minuten alle Satellitenverbindungen im Umkreis von einem Kilometer zu unterbrechen. Dieser Verdacht verstärkte sich bei den weiteren Morden. In sämtlichen Nächten, nach denen man wieder eine Leiche fand, gab es während einiger Minuten am frühen Morgen Probleme mit der Funkübertragung. Die Stunde des Mörders.
Laut Recherche wurden solche GPS-Jammer in Pakistan hergestellt und in Europa unter der Hand verkauft. Die Frage blieb, ob die genaue Kenntnis des Zeitpunkts eines Funklochs in Aubervilliers etwas für die Ermittlungen brachte. Eher nicht. Oder die Tatsache, dass der Mörder in Pakistan hergestelltes Material benutzte? Auch nicht. Das Team hatte die Handelswege der elektronischen Utensilien zurückverfolgt, doch auch das erwies sich als vergebliche Mühe.
Aus der Gerichtsmedizin kamen die Resultate der Blut- und Urinanalysen. Die Frau war an einer Kaliumchloridinjektion gestorben. Man nutzte diese chemische Verbindung, um bei Mehrlingsschwangerschaften die Anzahl der Embryonen zu vermindern. Passan hatte sich höchstpersönlich mit der Spur des KCl beschäftigt. Bei intravenöser Gabe verursacht Kaliumchlorid Kammerflimmern mit anschließendem Herzstillstand. Dabei ist das recht alltägliche Salz nicht nur im menschlichen Körper zu finden, sondern wird auch häufig in der Lebensmittelchemie und zur Düngemittelproduktion verwendet. Als Gift jedoch hat es eher Seltenheitswert.
Das Team hatte bei Kliniklieferanten nachgefragt, Vorräte überprüft und nach möglichen Diebstählen gefahndet. Passans Leute hatten sich mit Chemikern zusammengesetzt, um zu begreifen,
Weitere Kostenlose Bücher