Die Wahrheit des Blutes
wurde. Die toten weißen Körper lagen in schwarzem Lehm oder auf grünen Rasenflächen und waren mittels einer im Feuer verhärteten Schnur mit ihrem verkohlten Baby verbunden.
Passan hatte die Bilder mindestens schon tausendmal angeschaut; inzwischen berührten sie ihn kaum noch. In dieser Nacht erinnerten sie ihn vor allem an das Gemetzel des Vortags. An den Ärger mit den Schaulustigen. An Guillard auf der Schwelle seines Lagerhauses. Wieder eine Leiche. Wieder ein Feuer. Drinnen im Lagerhaus. Er dachte an den Mörder, der sich seiner Schläge erwehrte. Und er sah sich wieder, wie er Guillard auf der Fahrbahn festhielt, während der Sattelschlepper heranbrauste.
Das Hupen des Lkws weckte ihn.
Ein Schluck Kaffee. Ein Detail meldete sich tief im Innern seines Bewusstseins, doch er konnte es nicht genau ausmachen.
Etwas sehr Wichtiges.
Wie lief es ab? Patrick Guillard steht auf der Schwelle seines Lagerhauses. Schwarzer Regenmantel. Weißer Schädel. Lichtreflexe auf seinem verstörten Gesicht.
Wie sah er aus? Er trägt hellblaue, mit Blut befleckte Handschuhe.
Passan ließ ein paar Minuten vorbeiziehen.
Stopp. Guillard wehrt sich auf der nassen Fahrbahn.
Nahaufnahme. Seine Hände sind nackt.
Sofort griff Passan zum Telefon. Er tippte eine Kurzwahlnummer.
»Hallo?«
Fifis Stimme klang schläfrig.
»Ich bin es. Ich weiß jetzt, wie wir Guillard stellen können.«
»Hä?«
Passan hörte das Rascheln von Bettzeug und gestand seinem Kollegen ein paar Sekunden zu, um seine Gedanken auf die Reihe zu bringen.
»Als der Kerl abgehauen ist«, fuhr er schließlich fort, »trug er Chirurgenhandschuhe. Als ich ihn auf der Nationalstraße schnappte, hatte er sie nicht mehr. Er muss sie im Gelände fortgeworfen haben.«
»Ja und?«
Die Stimme des jungen Kommissars war klarer geworden. Er schien sich gefangen zu haben.
»Diese Handschuhe sind das fehlende Verbindungsstück. An der Außenseite klebt das Blut des Opfers, innen finden wir die DNA von Guillard, weil sich mit dem Schweiß kleine Hautpartikel abgeschilfert haben. Diese Handschuhe sind seine Eintrittskarte in den Knast!«
Erneut raschelte das Bettzeug, dann hörte Passan das Klacken eines Feuerzeugs.
»Okay«, sagte der Punker, nachdem er einen tiefen Zug inhaliert hatte. »Und was nun?«
»Wir suchen das Gelände ab.«
»Wann?«
»Jetzt. Ich hole dich ab.«
19
»Aufstehen, ihr Monster!«
Naoko öffnete die Vorhänge einen Spalt, um Licht ins Zimmer zu lassen. Sie hatte nur wenige Stunden geschlafen. Bereits im Morgengrauen lag sie wieder wach und lauschte dem Regen. In der Dunkelheit und mit dem leisen Rauschen im Hintergrund fühlte sie sich fast wie in Tokio. Auf ihrer Insel regnete es so häufig, wie eine Frau weint.
Geduldig hatte sie gewartet, bis es Zeit wurde, die Kinder zu wecken, und dabei über viele Dinge nachgedacht. Mussten sie die Villa wirklich verkaufen? War die Idee der abwechselnden Aufsicht über die Kinder wirklich gut? Sie beschloss, darüber noch einmal mit Passan zu reden. Am besten gleich heute.
Naoko beugte sich über Shinji und überhäufte ihn mit kleinen Küssen. Wenn sie ihre Söhne so schlafen sah, kostete es sie große Überwindung, die beiden aus ihrem Schlummer zu reißen. Ständig kämpfte sie gegen ihren natürlichen Hang zu Zärtlichkeit und Sanftmut. Um das Gleichgewicht zu wahren, musste sie dann ihre Autorität umso demonstrativer zur Schau stellen.
»Aufstehen, Herzchen«, flüsterte sie auf Japanisch.
Sie trat ans Bett von Hiroki, dem das Aufwachen leichter fiel. Das Kind schüttelte sich. Naoko tat sich nicht leicht damit, Gefühle auszudrücken. Die gewalttätige Art ihres Vaters hatte etwas in ihr zerbrochen. Sie war ungeschickt darin, Zuneigung zu zeigen.
»Raus mit dir, Shinji«, sagte sie zu dem Älteren, der sich noch immer nicht geregt hatte.
Sie öffnete die Vorhänge ganz und kehrte zu ihm zurück, entschlossen, ihn aus dem Bett zu ziehen. Doch dann blieb sie abrupt stehen. Neben Shinjis Kopfkissen lag ein Chupa Chup.
Mit einem Kribbeln auf der Haut schüttelte sie den Jungen.
»Aufwachen!«
Shinji öffnete ein Auge.
»Wer hat dir das gegeben?«, fragte sie ihn auf Französisch und schwenkte den Lutscher.
»Keine Ahnung.«
Intuitiv wandte sie sich Hiroki zu. Er saß auf dem Bett und hielt einen Chupa in der Hand.
Sie entriss ihm die Süßigkeit und schrie:
»Wer hat euch die Dinger gegeben? Und wann?«
Das Schweigen des sichtbar verblüfften Jungen war ihr Antwort genug. Hiroki
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