Die Wahrheit des Blutes
hatte diesen Lutscher ebenfalls gerade erst gefunden. Passan. Er musste während der Nacht ins Haus geschlichen sein und die Geschenke in die Betten gelegt haben.
Sie stürzte sich auf Shinji, der endlich aufstand.
»Papa war da, nicht wahr?«
Sie schüttelte seinen Arm.
»War das Papa?«
»Du tust mir weh!«
»Antworte!«
Shinji rieb sich die Augen.
»Ich weiß es doch nicht.«
»Zieh dich an.«
Naoko öffnete den Schrank und suchte die Kleider heraus.
Zunächst einmal musste sie sich fassen.
Ihn keinesfalls sofort anrufen.
Und vor allen Dingen die Kinder in Ruhe lassen.
Sie kehrte zu Shinji zurück, der immer noch ganz schlaftrunken war, und zwang sich, ihn ohne Hast anzuziehen. Hiroki war bereits beim Zähneputzen. Naoko schloss den Gürtel des Jungen und schickte ihn ebenfalls ins Bad.
Sie erhob sich und fühlte sich plötzlich unendlich matt. Am liebsten hätte sie sich auf ihr Bett geworfen und losgeheult. Glücklicherweise war sie noch so zornig, dass sie durchhielt.
Passan würde noch früh genug sein Fett abbekommen.
20
Drei Stunden wateten sie bereits im Matsch herum. Drei Stunden, in denen immer wieder Schauer niedergegangen waren.
Auf ein trübes Morgengrauen folgte milchige Helligkeit mit grauen Regenschleiern. In einer Hinsicht kam ihnen das triste Wetter zugute: Niemand traute sich nach draußen. Nirgends war jemand zu sehen, weder auf der Baustelle noch im Brachgelände. Le-Clos-Saint-Lazare weigerte sich, wach zu werden.
Allerdings befürchtete Passan, dass der Regen die Spuren auf den Handschuhen zerstören könnte. Falls sie die Beweisstücke überhaupt fänden.
Bis jetzt hatten sie umsonst gesucht. Passan und Fifi waren vom Tor der Lagerhalle gestartet, hatten die Baustelle durchquert und waren über das Brachgelände in Richtung der Nationalstraße gelaufen. Mit Hilfsmitteln, die sie an Ort und Stelle gefunden hatten – ein Bügelschloss für Passan und eine Radioantenne für Fifi – wühlten sie in der Erde, durchkämmten Grasbüschel und schoben Abfall beiseite.
Trotz der kühlen Witterung schwitzte Passan in seinem Regenmantel wie ein Stier. Immer wieder blickte er rückwärts in Richtung der schlangenförmig gebogenen Festungswälle der Siedlung, wo jederzeit eine Reihe kapuzenverhüllter Köpfe auftauchen konnte. Die Banden kehrten gern um diese Zeit mit den ersten Vorortzügen von ihren nächtlichen Spritztouren zurück, und häufig kam es gerade in der Morgendämmerung zu den wüstesten Schlägereien. Im Übrigen hatte er auch keine Lust, einer Streife der Stadtpolizei in die Arme laufen, denn hier war er alles andere als willkommen.
Er sah auf die Uhr. Zehn nach acht. Bald mussten sie sich im Büro blicken lassen. Wieder einmal ein Reinfall. Passan war ohnehin nicht allzu optimistisch gewesen. Vielleicht war Guillard inzwischen zurückgekehrt und hatte die Handschuhe geholt, oder der Wind hatte sie wer weiß wohin geweht. Vielleicht waren auch Kinder dagewesen, hatten sie gefunden und irgendwo weggeworfen. Zwar war das Gelände mit rot-weißem Band abgesperrt, aber auf solche Kleinigkeiten achtete man in dieser Gegend hier nicht. Eher im Gegenteil.
»Können wir mal Pause machen?«
Passan nickte. Fifi zündete sich einen Joint an und bot Passan aus purer Höflichkeit einen Zug an, obwohl er wusste, dass sein Boss kein Dope anrührte. Nie. Dann hockte er sich auf einen verrosteten Kühlschrank, zog einen silbernen Flachmann aus der Tasche und hielt ihn Passan hin, der abermals ablehnte.
Fifi nahm einen kurzen Schluck.
»Vielleicht solltest du es dabei belassen«, riet Passan. »Das wird langsam grenzwertig.«
Fifi lachte auf. »Das sagt der Richtige!«
»Was willst du damit sagen?«
»Auch wenn du dich noch so straight gibst – du gehst schwer auf dem Zahnfleisch.«
»Kapier ich nicht.«
»In dieser Geburtshelfer-Sache hast du doch nichts mehr zu melden.«
Passan setzte sich auf die Überreste eines Mofas ohne Reifen, das tief im Boden steckte.
»Ich will den Fall zu Ende bringen, das ist alles.«
»Alles? Du bist dabei, den Kerl zu lynchen, scherst dich nicht um Richtersprüche und suchst in aller Herrgottsfrühe nach Latexhandschuhen.«
»Die sind aus Nitril.«
»Was auch immer. Und das alles in diesem Ödland hier und außerdem absolut illegal. Kündige lieber, dann geht es schneller.«
Passan zog den Kopf unter seiner Kapuze zwischen die Schultern. Nieselregen klebte auf seiner Haut.
»Wenn du erst einmal deinen Job los bist«, fuhr Fifi
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