Die Wahrheit des Blutes
erdulden müssen. Die Ängste vor dem Duschen, vor Arztbesuchen und in Umkleidekabinen. Er kannte das alles aus eigener Anschauung und wusste, dass Außenseiter weiß Gott nichts zu lachen hatten. Wenn Guillard tatsächlich im 9–3 aufgewachsen war, gab es für ihn sicher mehr als nur einen Grund, sich an diesem Ort finsterster Erinnerungen rächen zu wollen.
Von der Justiz verurteilt und bei seinen Vorgesetzten in Ungnade gefallen, beschloss Passan, die Ermittlungen auf eigene Faust fortzusetzen. Er nahm Kontakt zu den Krankenhäusern von Saint-Denis, La Courneuve und den angrenzenden Gemeinden auf, um etwas über den Patienten Guillard herauszufinden. Vergeblich. Die Schweigepflicht bildete ein solides Bollwerk, und an eine Ausnahmegenehmigung war unter den derzeitigen Umständen nicht zu denken.
Auch die Jugendbehörde verweigerte ihm jegliche Auskunft. Den Autohändler durfte er nicht mehr überwachen noch sich ihm überhaupt nähern. Bei den Ermittlungen im dritten Mordfall ergaben sich natürlich ebenso wenige Anhaltspunkte wie bei den beiden vorigen. Das gesamte Departement geriet in Panik. Schwangere Frauen trauten sich nicht mehr auf die Straße. Die merkwürdigsten Gerüchte machten die Runde: Der Mörder sei ein Polizist, oder die Regierung habe die Verbrechen angeordnet, um den Bewohnern der Viertel einen Schrecken einzujagen und sie aus den Wohnsiedlungen zu vertreiben. Die Medien gossen Öl ins Feuer, indem sie ausführlich über die Angst in den Siedlungen und den Mangel an greifbaren Resultaten berichteten.
Und während dieses ganzen Chaos war dann noch am 18. Juni Leila Moujawad verschwunden.
Passan fühlte sich fast überrumpelt. In seinem Starrsinn, Guillard dingfest zu machen, hatte er beinahe vergessen, dass der Mörder – wer auch immer es sein mochte – erneut zuschlagen konnte. Sein erster Impuls war, zu Guillard zu gehen und aus ihm herauszuprügeln, wo er sein Opfer gefangen hielt. Aber ihm waren die Hände gebunden, und Prügel kamen erst recht nicht infrage.
Ihm blieb nichts als die klassische Vorgehensweise: verstärkte Streifenfahrten, Vernehmung der Nachbarn, Aufrufe an Zeugen, sich zu melden. Alle erwarteten bereits, dass man auch Leila tot auffinden würde.
Und genau zu diesem Zeitpunkt erhielt Passan den brisanten Hinweis. Einige Wochen zuvor hatte er einen Kollegen von der Steuerfahndung dazu gebracht, sich in die Computer der Finanzbehörden einzuhacken und alles Wissenswerte über die Holding von Patrick Guillard abzufragen. Eigentlich hatte er schon nicht mehr mit einer Überraschung gerechnet, doch tatsächlich fand der Computerfreak in der Holding ein Serviceunternehmen namens PALF, dessen Arbeitsbereich alles andere als klar definiert war. »Untersuchung, Instandhaltung und Reparatur von Kraftfahrzeugen«, hieß es in den Unterlagen. Die Niederlassung war auf Jersey angemeldet, verschickte Rechnungen an die anderen Werkstätten der Gruppe und kassierte deutlich überhöhte Gewinne, die sie an eine Immobiliengesellschaft mit Sitz auf den Kanalinseln weiterleitete. Mit anderen Worten: Guillard stellte innerhalb seiner eigenen Gesellschaften falsche Rechnungen aus. Diese Entdeckung erwies sich als Glücksfall für Passan, denn die Immobiliengesellschaft auf Jersey besaß ein Lagerhaus in Stains, das in Guillards Büchern nirgends auftauchte. Ein Versteck? Ein Refugium?
Passan hatte diesen Hinweis am Sonntag, den 19. Juni, um halb zwölf Uhr abends erhalten. Er machte sich gar nicht erst die Mühe, jemanden zu informieren, denn niemand würde vor der gesetzlich vorgeschriebenen Zeit um sechs Uhr früh tätig werden. Außerdem war man vorsichtig geworden, wenn Passan eine wie auch immer geartete Aktivität gegen Guillard plante.
Er durfte keine Zeit verlieren. Ein Anruf bei Fifi, dann fuhren sie gemeinsam zu dem Lagerhaus in eine Gegend, wo niemand sie kannte.
Was dann folgte, war das schlimmste Fehlverhalten seiner Karriere.
18
Passan rieb sich die Augen, ehe er sie öffnete.
Nichts Neues im Schein der LED-Lampe.
Sein Magen schmerzte, seine Gliedmaßen waren verkrampft, seine Wirbelsäule tat weh.
Es war zwar bereits zwei Uhr, doch er fühlte sich noch immer nicht müde. Ein Griff in eine andere Kiste förderte die Fotos von den Leichenfundorten zutage. Passan füllte seinen Kaffeebecher, ehe er sich dem visuellen Albtraum widmete.
Audrey Seurat. Karina Bernard. Rachida Nesaoui. Immer das gleiche Bild und immer die gleiche Art, wie die Leiche zurückgelassen
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