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Die Wahrheit des Blutes

Die Wahrheit des Blutes

Titel: Die Wahrheit des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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sais quand elle a froid. Son regard …«
    Er hatte gerade noch Zeit, dem Bügelschloss auszuweichen, das Passan nach ihm warf.

21
    Knapp eine Stunde später stand Passan in der riesigen Eingangshalle des Büroturms, in dem Naoko arbeitete. Marmorböden, Säulen, hohe Decken. Er fühlte sich hier immer wie in einer Kathedrale. Zwar gab es keine bunten Glasfenster, aber riesige Durchblicke, die sich auf die anderen Türme und ihre eindrucksvollen Spiegelungen öffneten. Ein Gebäude, das dem Gott des Profits geweiht war.
    Passan ging schneller. Seine Schritte erschienen ihm unglaublich laut. Die Gesellschaft, für die Naoko arbeitete, belegte zwei Etagen des Geschäftsgebäudes: ein Wirtschaftsprüfungsunternehmen, das in dem Ruf stand, die Bilanzen seiner Kunden mit geradezu chirurgischer Präzision zu analysieren. Ungeschönte Berichte, die zu entweder rettenden oder todbringenden Maßnahmen führten, je nach Standpunkt. Filialschließungen. Kündigungen. Verschärfte Zielvorgaben.
    Die Räume aus Stahl, Glas und Resonanzen kamen ihm unendlich kalt und erdrückend vor. Ganz zu schweigen von Naoko. Mit verschränkten Armen stand sie inmitten einer Sitzgruppe, die sich mit ihrem leuchtenden Rot wie ein Rettungsboot in einem mineralischen Ozean ausnahm.
    Er sah gleich, dass sie schlechte Laune hatte. An solchen Tagen wirkte ihr Gesicht wie eine Maske – oval, poliert, ohne jeden Makel und völlig ausdruckslos.
    Sie warf einen missbilligenden Blick auf seine Erscheinung: unrasiert, bis auf die Haut durchnässt, die Kleider zerknittert. Wortlos streckte sie ihm ihre offene Handfläche entgegen.
    Passan tat, als verstünde er nicht. Naoko trug ein pastellfarbenes Kleid, dessen Falten sich um ihren schlanken Körper schmiegten und ihm eine gewisse Aura verliehen. Sie hielt den Kopf ein wenig vorgebeugt, was ihre zielstrebige Hartnäckigkeit betonte. Ihre Stirn war so glatt und weiß wie Porzellan.
    »Deine Schlüssel«, kommandierte sie. Wie ein Polizist, der einem Dieb befiehlt, seine Taschen zu leeren.
    »Das ist doch absurd«, wehrte er sich, zog aber den Schlüsselbund aus der Tasche.
    »Absurd ist höchstens, sich die Zuneigung der Kinder mit Lutschern erkaufen zu wollen.«
    Passan legte die Schlüssel in ihre Hand, die sich sogleich schloss. Naoko hatte eine Eigenart: Bei der geringsten Gefühlsregung begann sie zu zittern. Ihre Finger flatterten, ihre Lippen bebten. Schon früher hatte Passan sich gefragt, warum man den Japanern Gleichmut nachsagte. Nie hatte er einen so leidenschaftlichen und sensiblen Menschen wie Naoko getroffen. Ihre Nerven waren gespannt wie die Saiten eines Koto.
    »Hast du vor, das alleinige Sorgerecht zu beantragen? Ist es das?«
    »Das ist doch ausgemachter Blödsinn.«
    »Was führst du dann im Schilde?«
    »Nichts. Wirklich gar nichts.«
    Sie schwiegen sich an. Die Geräusche der riesigen Halle brachen sich an der hohen Decke wie das leise Murmeln von Kirchgängern vor dem Gottesdienst.
    »Diese Lutscher«, wagte Passan sich schließlich vor, »wann hast du sie gefunden?«
    »Heute Morgen in ihren Betten. Ich …«
    Naoko brach ab. Sie wurde blass.
    »Warst du das etwa nicht?«
    Passan senkte die Augen.
    »Doch, ich war es.«
    »Das ist wirklich bedauerlich. Begreifst du denn nicht, dass wir uns an die Regeln halten müssen? Jeder ist eine Woche lang zuständig. Wenn wir das nicht durchhalten, schaffen wir es nie.«
    Passan antwortete nicht. Naoko hatte noch eine weitere Besonderheit, die sich bei Stress deutlich verstärkte: Sie blinzelte erheblich schneller als jede Europäerin. Manchmal verlieh ihr dies ein lebhaftes, geradezu schelmisches Aussehen, manchmal aber wirkte sie damit besonders verletzlich. Als fürchte sie sich vor der brutalen Wirklichkeit und sei von der Härte der Welt geblendet.
    »Okay«, nickte er schließlich. »Ich rufe dich heute Abend an.«
    Naoko drehte sich um und ging zu den Aufzügen.
    »Nicht nötig.«

22
    Auf dem Stadtring gab Passan Gas.
    In seiner gesamten Jugend hatte er die Gegend um La Défense mit dem Mofa erobert und miterlebt, wie das Viertel an Gestalt gewann. La Grande Arche. Die Türme von EDF und CBX, die Exaltis-Blocks, Coeur Défense. Pfeile aus Glas. Spiegelnde Gipfel. Durchsichtige Quader. All das war aus dem Asphalt gewachsen und hatte die Erdkruste wie eine gigantische, prächtige Eruption durchbrochen. Die Tektonik des Kapitals.
    Jemand war in sein Haus eingedrungen. Hatte das Refugium seiner Frau und seiner Kinder entweiht. Wie

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