Die Wahrheit eines Augenblicks
zu Hause.«
Da fiel Cecilias Blick auf Lucy O’Learys Tochter Tess auf der anderen Seite des Schulhofes. Sie saß am Ende einer Stuhlreihe neben dem Rollstuhl ihrer Mutter. Cecilia fiel ein, dass sie sich eigentlich noch bei Tess bedanken müsste für ihre so selbstverständliche Hilfe tags zuvor. Und sie müsste sich noch dafür entschuldigen, dass sie nicht einmal angeboten hatte, ihr ein Taxi zu rufen. Das arme Mädchen hatte den ganzen Weg zurück zum Haus ihrer Mutter bergauf zu Fuß gehen müssen. Außerdem hatte sie Lucy eine Lasagne versprochen! Vielleicht war sie ja doch nicht so parkettsicher, wie sie immer gedacht hatte. Sie machte viele winzige Fehler, die möglicherweise bewirkten, dass am Ende alles zerbrach.
War es erst am Dienstag gewesen, da sie Polly zum Ballett gefahren und von großen Gefühlen geträumt hatte, die ihr Herz im Sturm erobern würden? Die Cecilia von vor zwei Tagen war eine Närrin gewesen. Denn sie hatte fortgerissen werden wollen von einer reinen, herrlichen Welle der Emotion ähnlich der, die einen überkommt, wenn man einen Film mit einer herzergreifenden Szene sieht, unterlegt mit einer überwältigenden Musik. Was sie aber nicht wollte, war dieser Herzschmerz, der kaum zum Aushalten war.
»Ups! Ups! Das fällt gleich runter!«, rief Erica. Ein Junge aus der zweiten Klasse trug einen mächtigen Vogelkäfig auf dem Kopf. Der Kleine, Luke Lehaney (Mary Lehaneys Sohn), schritt wie der Schiefe Turm von Pisa langsam dahin, während sich sein ganzer Körper zur Seite neigte, in dem verzweifelten Versuch, den Vogelkäfig aufrecht zu balancieren. Doch mit einem Mal glitt er ihm vom Kopf und krachte auf den Boden, woraufhin auch Bonnie Green ins Stolpern geriet und ebenfalls ihre Kopfbedeckung verlor. Augenblicklich verzog Bonnie das Gesicht zum Weinen, und Luke starrte entgeistert auf seinen kaputten Vogelkäfig.
Ja, ich will auch zu meiner Mum , dachte Cecilia bei sich, als sie die Mütter von Luke und Bonnie sah, die auf ihre Kinder zueilten, um sie zu retten. Ich will auch zu meiner Mum, damit sie mich tröstet, damit sie mir sagt, dass alles gut wird und ich nicht zu weinen brauche.
Normalerweise wohnte ihre Mutter der alljährlichen Ostermützenparade bei, machte mit ihrer Einwegkamera unscharfe Fotos von den Mädchen, auf denen die Köpfe meist abgeschnitten waren, doch in diesem Jahr war sie bei der Parade an Sams exklusiver Vorschule, wo es für die Erwachsenen Champagner gab. »Bekloppter geht es wohl kaum«, hatte sie zu Cecilia gesagt. »Champagner auf einer Ostermützen-Parade! Dahin fließen also die Schulgebühren, die Bridget bezahlt.« Cecilias Mutter liebte Champagner. Sie würde sich dort herrlich amüsieren, mit Großmüttern aus der besseren Schicht verkehren, nicht so wie hier in der St.-Angela-Schule. An sich tat sie immer so, als machte sie sich gar nichts aus Geld, in Wirklichkeit jedoch hielt sie sehr viel davon.
Was würde ihre Mutter wohl sagen, wenn sie ihr von John-Paul erzählen würde? Mit zunehmenden Jahren, so war Cecilia aufgefallen, stieß ihre Mutter an Grenzen, wenn man ihr etwas erzählte, das erschütternd oder schlicht etwas verworren war. Ihr Gesicht wurde dann schlaff wie das eines Schlaganfallpatienten, so, als hätte ihr Geist den Betrieb zeitweilig eingestellt vor lauter Schock.
»John-Paul hat ein Verbrechen begangen«, so würde Cecilia beginnen.
»Oh, mein Liebling, ich bin sicher, das hat er nicht«, würde ihre Mutter antworten.
Was würde Cecilias Vater sagen? Er litt unter Bluthochdruck. Die Nachricht könnte ihn das Leben kosten. Cecilia stellte sich vor, wie der blanke Schrecken über sein weiches, faltiges Gesicht fliegen würde, wie sich seine Stirn verfinstern würde, während er angestrengt versuchte, die Information in die richtige Schublade seines Gehirns zu packen. »Was meint John-Paul dazu?«, würde er wahrscheinlich fragen, ganz automatisch, denn je älter ihre Eltern wurden, desto größeren Wert schienen sie auf John-Pauls Meinung zu legen.
Ohne John-Paul kämen sie in ihrem Leben gar nicht zurecht, ebenso wenig wie mit dem Wissen über seine Schuld oder mit der Schande, die er über die Familie gebracht hatte.
Man muss das große Ganze abwägen. Das Leben ist nicht nur schwarz oder weiß. Ein Geständnis würde Janie nicht wieder lebendig machen. Es würde nichts bringen. Es würde Cecilias Töchter verletzen. Es würde Cecilias Eltern verletzen. Es würde John-Paul verletzen. Und all das nur weil er mit
Weitere Kostenlose Bücher