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Die Wahrheit eines Augenblicks

Die Wahrheit eines Augenblicks

Titel: Die Wahrheit eines Augenblicks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liane Moriarty
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Süßer.« Lauren warf ihren Pferdeschwanz nach hinten über ihre Schulter. »Was sagst du?«
    Himmel noch mal ! Rachel seufzte. Es war nicht etwa so, dass sie Janies Präsenz wirklich spüren konnte, wenn sie hier war. Eigentlich konnte sie sich Janie hier gar nicht vorstellen, konnte nicht begreifen, wie sie hierhergekommen war. Dass Janie überhaupt in diesen Park kam, hatte keiner von ihren Freunden gewusst. Und ganz offenbar hatte es mit einem Jungen zu tun gehabt. Einem Jungen namens Connor Whitby. Er hatte wahrscheinlich Sex gewollt, und Janie hatte Nein gesagt. Hätte sie doch bloß Sex mit ihm gehabt! Es war Rachels Schuld; sie hatte Janie deshalb ständig ins Gewissen geredet und getan, als wäre es ein so bedeutsames Ereignis, seine Jungfräulichkeit zu verlieren. Dabei war der Tod, das Sterben, weitaus bedeutsamer. »Schlaf, mit wem du willst, Janie! Aber sieh zu, dass du verhütest!« Das hätte sie ihr sagen sollen.
    Ed hatte nie in den Park kommen wollen, in dem man Janie aufgefunden hatte. »Was soll ich dort? Was soll das verdammt noch mal bringen?«, fragte er. »Es ist jetzt ohnehin zu spät. Sie ist verdammt noch mal nicht mehr da.«
    Ja, du hattest verdammt noch mal recht, Ed.
    Doch Rachel hatte das Gefühl, es Janie schuldig zu sein, Jahr um Jahr mit ihrem Blumensträußchen hierherzukommen, um sich zu entschuldigen, nicht da gewesen zu sein, um dafür jetzt da zu sein, um sich ihre letzten Minuten vorzustellen, um den Ort zu ehren, an dem sie zuletzt lebendig gewesen war, den Ort, an dem sie ihren letzten Atemzug getan hatte. Ach, wäre sie nur da gewesen, um sie in jenen letzten, kostbaren Minuten sehen zu können, um den Anblick ihrer langen, dünnen Beine und Arme und der kantigen Schönheit ihres Gesichts in sich aufnehmen zu können! Es war ein alberner Gedanke, denn wäre sie da gewesen, hätte sie natürlich alles darangesetzt, Janies Leben zu retten. Aber trotzdem, sie sehnte sich danach, da gewesen zu sein, auch wenn sie nichts hätte aufhalten oder ändern können.
    Vielleicht hatte Ed recht gehabt. Was soll das verdammt noch mal bringen , Jahr um Jahr hierherzukommen? Und in diesem Jahr fühlte es sich besonders sinnlos an, hier zu sein mit Rob, Lauren und Jacob, die herumstanden, als warteten sie darauf, dass irgendetwas passierte, dass das Unterhaltungsprogramm begann oder dass der Bus käme.
    »Saft!«, rief Jacob.
    »Tut mir leid, mein Süßer, ich verstehe dich nicht«, sagte Lauren.
    »Er will einen Saft«, erklärte Rob derart schroff, dass Lauren ihr schon beinahe leidtat. Rob hatte genau wie Ed geklungen, wenn er grantig wurde. Die Crowley-Männer konnten richtige Muffel sein. »Wir haben keinen, kleiner Mann. Aber wir haben deine Wasserflasche dabei. Hier, trink etwas Wasser!«
    »Wir trinken keinen Saft, Jacob«, dozierte Lauren. »Das ist schlecht für deine Zähne.«
    Jacob hielt die Wasserflasche mit seinen dicken, kleinen Händchen, legte den Kopf zurück, trank gierig und warf Rachel dabei einen Blick zu, der Bände sprach: Wir erzählen ihr nicht, dass ich bei dir immer ganz viel Saft trinke .
    Lauren zog den Gürtel ihres Trenchcoats enger und drehte sich zu Rachel um. »Sagst du normalerweise etwas? Oder, hm …«
    »Nein, ich denke nur an sie«, antwortete Rachel mit Flüsterstimme. Halt die Klappe! , hätte sie am liebsten gesagt. Mit Sicherheit würde sie ihren Gefühlen vor Lauren nicht freien Lauf lassen. »Wir können auch gleich gehen. Es ist sehr frisch. Wir wollen ja nicht, dass Jacob sich erkältet.«
    Es war lächerlich, den Jungen mit hierher zu nehmen. An diesem Tag. Vielleicht würde sie sich für die Zukunft etwas anderes überlegen, um Janies Todestag zu gedenken. An ihr Grab gehen etwa, wie sie das an Janies Geburtstag immer tat.
    Sie musste diesen endlosen Tag einfach irgendwie überstehen, und dann wäre es wieder vorbei – für ein weiteres Jahr. Einfach weitermachen. Die Minuten zählen. Durchhalten, bis es endlich Mitternacht war.
    »Möchtest du etwas sagen, Liebling?«, fragte Lauren Rob.
    Nein, will er nicht!, hätte Rachel am liebsten gerufen, zügelte jedoch ihre Zunge. Sie sah zu Rob hinüber. Er schaute hinauf in den Himmel, den Hals lang gestreckt wie der einer Schildkröte. Rob biss die starken, weißen Zähne fest zusammen und hielt die Hände über dem Bauch verschränkt, als hätte er Krämpfe.
    Er ist noch nie hier gewesen, dachte Rachel bei sich. Er ist nie in diesem Park gewesen, seit man sie gefunden hat. Rachel ging einen

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