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Die Wahrheit eines Augenblicks

Die Wahrheit eines Augenblicks

Titel: Die Wahrheit eines Augenblicks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liane Moriarty
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Schritt auf ihn zu, aber Lauren war eine Idee schneller und ergriff seine Hand.
    »Ist okay«, murmelte sie. »Alles gut. Atme ganz ruhig ein und aus, Liebling! Atme!«
    Rachel sah hilflos zu, wie diese junge Frau, die sie nicht wirklich kannte, ihren Sohn tröstete, den sie wahrscheinlich auch nicht wirklich kannte. Sie sah zu, wie Rob sich nach vorn zu seiner Frau beugte, und es wurde ihr klar, wie wenig sie von der Trauer ihres Sohnes wusste. Sie hatte nie davon wissen wollen. Ob er Lauren oft weckte mit seinen Albträumen, wenn er nachts in zerwühlten Laken auffuhr? Ob er dann leise im Dunkeln mit ihr sprach, ihr von seiner Schwester erzählte?
    Rachel spürte eine Hand an ihrem Knie und blickte hinunter.
    »Grandma«, sagte Jacob und gab ihr ein Zeichen, sich zu ihm herunterzubeugen.
    »Was ist denn?« Sie bückte sich, und er legte eine Hand um ihr Ohr.
    »Saft«, flüsterte er. »Bitte, bitte!«
    Die Familie Fitzpatrick schlief lange aus. Cecilia war als Erste wach. Sie langte nach ihrem iPhone auf dem Nachttisch neben dem Bett. Schon nach neun. Das Wetter draußen war grau in grau, die reinste Nebelsuppe, und fahles Licht durchflutete das Schlafzimmer.
    Karfreitag und der Zweite Weihnachtstag waren die einzigen zwei kostbaren Tage im Jahr, an denen nichts auf dem Programm stand. Morgen würde sie sich daranmachen, das Festmahl für Ostersonntag vorzubereiten, aber heute war es ruhig – keine Gäste, keine Hausarbeit, keine Hektik, keine Einkäufe. Die Luft war kühl, das Bett warm.
    John-Paul hat Rachel Crowleys Tochter ermordet . Der Gedanke stach ihr in die Brust und drückte auf ihr Herz. Nie wieder würde sie an einem Karfreitagmorgen im Bett liegen und im herrlich wonnigen Gefühl schwelgen, dass nichts anstand, dass nichts zu erledigen war, denn für den Rest ihres Lebens würde es immer eine Sache geben, die unerledigt war. Immer . Ein nicht abgelegtes Geständnis. Ein hässliches Geheimnis.
    Cecilia lag auf der Seite, mit dem Rücken zu John-Paul. Sie spürte das warme Gewicht seines Armes um ihre Taille. Ihr Ehemann. Ihr Ehemann – der Mörder. Hätte sie es wissen müssen? Hätte sie es ahnen müssen? Die Albträume, die Migräneanfälle, die Zeiten, an denen er so … verstockt, so seltsam war? Es hätte keinen Unterschied gemacht, aber es gab ihr das Gefühl, möglicherweise unachtsam gewesen zu sein, gleichgültig. »So ist er eben«, hatte sie sich gesagt. Sie erinnerte sich, wie er rigoros gegen ein viertes Kind gewesen war. »Ein Junge wäre doch schön«, hatte Cecilia gesagt, als Polly noch klein gewesen war, hatte aber gewusst, dass sie sich auch beide über ein viertes Mädchen riesig freuen würden. Es war ihr ein Rätsel gewesen, warum er sich so sehr dagegen sperrte. Aber wahrscheinlich war es nur ein weiteres Beispiel seiner Selbstgeißelung. Wahrscheinlich hätte er sich sehnlichst einen Jungen gewünscht.
    Denk an etwas anderes !, ermahnte sie sich jetzt. Vielleicht sollte sie aufstehen. Sie könnte schon mal mit dem Kuchenbacken für Ostersonntag beginnen. Wie würde sie klarkommen mit all den Gästen, den Unterhaltungen, der Fröhlichkeit? John-Pauls Mutter würde wie immer in ihrer selbstgerechten Art in ihrem Lieblingssessel Hof halten und das sorgsam gehütete Geheimnis mit ihnen teilen. »Das ist alles so lange her«, hatte sie gesagt. Rachel aber musste es vorkommen wie gestern.
    Aus heiterem Himmel fiel Cecilia wieder ein, dass Rachel erzählt hatte, heute sei Janies Todestag. Ob John-Paul daran dachte? Wahrscheinlich nicht. Sich Jahrestage zu merken war noch nie seine Stärke gewesen. Er vergaß sogar ihren Hochzeitstag, wenn Cecilia ihn nicht daran erinnerte. Wieso sollte er sich also den Tag merken, an dem er ein Mädchen getötet hatte?
    »Du lieber Himmel«, seufzte sie leise vor sich hin und fühlte, wie sich sämtliche körperlichen Symptome ihrer neuen Krankheit schlagartig bemerkbar machten: Brechreiz, Kopfschmerzen. Sie musste aufstehen, musste dem Ganzen irgendwie entfliehen. Cecilia schickte sich an, die Laken zurückzuwerfen, und spürte, wie sich John-Pauls Arm fester um sie schlang.
    »Ich stehe auf«, sagte sie, ohne sich zu ihm umzudrehen.
    »Wie denkst du denn, dass wir es finanziell schaffen werden?«, wisperte er in ihren Nacken. Er klang heiser, als hätte er eine schlimme Erkältung. »Wenn ich tatsächlich ins … gehe … wenn mein Einkommen also wegfällt? Wir müssten das Haus verkaufen, richtig?«
    »Wir werden überleben«, antwortete sie

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