Die Wahrheit eines Augenblicks
Er hatte ein Recht, davon zu erfahren. Manchmal wurde ihr schmerzlich bewusst, wie wenig Beachtung sie Robs Trauer geschenkt hatte. Es war ihr einfach nur darum gegangen, dass er ihr aus dem Weg blieb, ins Bett ging, fernsah und sie im stillen Kämmerlein weinen ließ.
»War dir nicht ein bisschen langweilig, Mum?«
»Nein, es war prima. Als ich nach Hause kam …«
»He! Gestern vor der Arbeit habe ich Passfotos von Jacob machen lassen. Du musst sie dir ansehen. So süß.«
Janie hatte nie einen Pass gehabt. Aber Jacob . Mit gerade mal zwei Jahren. Er hatte einen Pass, mit dem er jederzeit das Land verlassen konnte.
»Ich kann es kaum erwarten«, sagte Rachel. Nein, sie würde Rob nicht von dem Video erzählen. Er hatte mit seinem eigenen wichtigen Jet-Set-Leben genug zu tun, da brauchte sie ihn nicht auch noch bange machen mit Ermittlungen im Mordfall seiner Schwester.
Stille in der Leitung. Rob war nicht blöd.
»Wir haben Freitag nicht vergessen«, erklärte er. »Ich weiß, diese Zeit im Jahr ist immer schwer für dich. Und da wir gerade von Freitag sprechen …« Er schien darauf zu warten, dass sie etwas sagte. Hatte er in Wahrheit nur deshalb angerufen?
»Ja? Was ist mit Freitag?«, fragte sie ungeduldig.
»Lauren hat versucht, neulich abends mit dir darüber zu sprechen. Es ist ihre Idee. Na ja, eigentlich nicht. Eigentlich gar nicht. Es ist meine Idee. Sie hat nur etwas gesagt, und da habe ich überlegt, dass es … vielleicht … na ja, ich weiß, du gehst immer in den Park. In ebendiesen Park. Ich weiß, dass du normalerweise allein gehst. Aber ich habe mich gefragt, ob ich vielleicht nicht mitkommen könnte. Mit Lauren und Jacob. Wenn das für dich in Ordnung wäre.«
»Das braucht ihr nicht …«
»Ich weiß, dass du uns dafür nicht brauchst .« Rob fiel ihr ins Wort; er klang ungewöhnlich konkret. »Aber ich möchte diesmal dabei sein. Für Janie. Um ihr zu zeigen, dass …«
Rachel hörte, wie seine Stimme brach.
Er räusperte sich und sprach weiter, und er klang jetzt tiefer.
»Und danach können wir in das nette Café am Bahnhof gehen. Lauren meint, es hat am Karfreitag geöffnet. Wir könnten dort zusammen frühstücken.« Er hustete und schob hastig hinterher: »Oder auch nur einen Kaffee trinken.«
Rachel stellte sich vor, wie Lauren im Park stand, ernst und feierlich, elegant gekleidet; in einem cremefarbenen Trenchcoat, den Gürtel fest um die Taille geschnürt, das glänzende Haar zu einem nicht allzu keck schwingenden Pferdeschwanz gebunden, die Lippen unaufdringlich geschminkt, nicht zu grell, während sie immer die richtigen Worte im richtigen Moment fand und es irgendwie schaffte »den Jahrestag der Ermordung der Schwester ihres Ehegatten« zu einem »perfekt organisierten gesellschaftlichen Ereignis im Familienkalender« zu machen.
»Ich denke, ich würde lieber …« Sie brach ab, da sie Robs brüchige Stimme noch im Ohr hatte. Klar, es war alles von Lauren eingefädelt. Doch es war vielleicht genau das, was Rob brauchte. Vielleicht brauchte er es mehr, als sie, Rachel, das Alleinsein im Park brauchte.
»Schön«, sagte sie. »Für mich ist das in Ordnung. Normalerweise gehe ich sehr früh los, so um sechs Uhr morgens. Aber Jacob ist um diese Zeit sowieso schon quietschfidel, oder nicht?
»Ja! Ist er! Dann kommen wir vorbei. Danke. Es bedeutet mir …«
»Hör mal, ich habe hier Berge von Arbeit vor mir liegen. Wenn es dir nichts ausmacht, dann …« Sie hatten das Telefon ohnehin viel zu lange blockiert. Rodney hatte bestimmt schon versucht, sie zu erreichen.
»Tschüss, Mum.«
25
Cecilias Haus war wunderschön, einladend und lichtdurchflutet mit großen Fenstern, die einen Ausblick auf einen tipptopp gepflegten Garten mit Swimmingpool boten. Überall an den Wänden hingen süße, lustige Familienfotos und eingerahmte Kinderzeichnungen. Alles war strahlend sauber und ordentlich, aber nicht übertrieben oder unpersönlich kalt. Die Sofas sahen gemütlich und weich aus. Die Bücherregale waren vollgepackt mit Büchern und Krimskrams. Dass Cecilia Töchter hatte, war nicht zu übersehen: überall Sportsachen, ein Cello, ein Paar Ballettschuhe. Doch alles befand sich picobello an seinem Platz. Es sah aus, als stünde das Haus zum Verkauf, vom Makler angepriesen als das »ideale Familienhaus«.
»Dein Haus gefällt mir sehr«, sagte Tess, als Cecilia sie in die Küche führte.
»Danke, es ist … oje!« Cecilia blieb abrupt an der Küchentür stehen. »Ich
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