Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wahrheit eines Augenblicks

Die Wahrheit eines Augenblicks

Titel: Die Wahrheit eines Augenblicks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liane Moriarty
Vom Netzwerk:
muss mich für dieses Chaos entschuldigen!«
    Tess ging hinter ihr her in die Küche. »Du machst wohl Witze?«, erwiderte sie. Auf einer Kochinsel standen ein paar Müslischalen, auf der Mikrowelle ein halb ausgetrunkenes Glas Apfelsaft und auf dem Küchentisch lagen eine Schachtel Müsliflocken und ein kleiner Stapel Bücher. Ansonsten war der Raum blitzsauber.
    Tess sah amüsiert zu, wie Cecilia anfing, in der Küche herumzuwirbeln. Binnen Sekunden hatte sie die Müslischalen im Geschirrspüler verstaut, die Müslischachtel in den riesigen Vorratsschrank geräumt und das Spülbecken mit Küchenkrepp blank poliert.
    »Wir waren heute Morgen ungewöhnlich spät dran«, erklärte Cecilia, die das Spülbecken scheuerte, als ginge es um ihr Leben. »Normalerweise kann ich nicht aus dem Haus, wenn nicht alles sauber ist. Ich weiß, das ist albern. Meine Schwester sagt immer, ich hätte eine psychische Zwangsstörung.«
    Da wird ihre Schwester nicht unrecht haben, dachte Tess. »Du solltest dich ausruhen«, sagte sie.
    »Setz dich doch! Möchtest du einen Tee? Oder Kaffee?«, fragte Cecilia hektisch. »Ich habe auch Muffins oder Kekse …« Sie stockte, schlug die Hand an die Stirn und blinzelte kurz. »Du meine Güte! Was wollte ich noch gleich sagen …?«
    »Ich denke, ich sollte dir einen Tee kochen.«
    »Ich müsste eigentlich …« Cecilia zog sich einen Stuhl vom Tisch und blieb wie gelähmt stehen, als ihr Blick auf ihre Füße fiel. »Meine Schuhe passen ja gar nicht zusammen«, murmelte sie erschrocken.
    »Das hat keiner gemerkt.«
    Cecilia setzte sich, legte die Ellbogen auf den Tisch und lächelte Tess kläglich, fast schüchtern an.
    »Dieser Aufzug hat meinem Ruf in der Schule bestimmt nicht gutgetan.«
    »Ach, halb so wild«, sagte Tess. Sie befüllte den glänzend sauberen Wasserkocher mit Wasser und bemerkte, dass ein paar Tröpfchen in Cecilias blank geputztes Spülbecken spritzten. »Dein Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben.«
    Aus Sorge, sie hätte Cecilia möglicherweise vermittelt, dass ihr Verhalten ihr irgendwie peinlich sein müsse, wechselte sie rasch das Thema. »Hält eine deiner Töchter ein Referat über die Berliner Mauer?«
    »Esther befasst sich mit dem Thema aus purem Interesse«, antwortete Cecilia. Sie zog den Stapel Bücher zu sich her und öffnete eines. »Sie vergräbt sich förmlich in all diese verschiedenen Themenbereiche. Langsam werden wir alle noch zu echten Experten. Das kann allerdings ein bisschen nerven. Egal.« Sie holte tief Luft, drehte sich plötzlich auf ihrem Stuhl und sah Tess direkt an, als wären sie auf einer Party, und Cecilia hätte gerade beschlossen, dass es an der Zeit wäre, sich ihr zuzuwenden und nicht dem Gast an ihrer anderen Seite. »Warst du schon mal in Berlin, Tess?«
    Ihre Stimme schien ein wenig aus dem Lot geraten zu sein. Ob sie sich gleich wieder würde übergeben müssen? Ob sie Drogen nahm? Oder psychisch krank war?
    »Nein, nicht direkt.« Tess öffnete Cecilias Vorratsschrank, um die Teebeutel zu finden, und bekam vor Staunen ganz große Augen, als sie ein ganzes Arsenal von sorgsam beschrifteten Tupperdosen in allen möglichen Formen und Größen sah. Wie in der Werbung. »Ich war ein paar Mal in Europa, doch meine Cousine, Felicity …« Sie stockte. Eigentlich hatte sie sagen wollen, dass Felicity nicht an Deutschland interessiert war und sie deswegen nicht hingefahren sei, doch zum ersten Mal wurde ihr plötzlich klar, wie kreuzdämlich es war, so etwas von sich zu geben. Als wäre ihr eigenes Interesse an Deutschland nicht der Rede wert. (Was genau interessierte sie eigentlich an Deutschland?) Sie entdeckte ein Tablett, auf dem in Reih und Glied verschiedene Teebeutel sortiert waren. »Oh, mein Gott! Du bist wirklich komplett ausgestattet. Was möchtest du denn für einen Tee?«
    »Earl Grey, schwarz, kein Zucker. Wirklich, lass mich bitte machen!« Cecilia stand auf.
    »Bleib sitzen, bleib sitzen!«, befahl Tess, als würde sie Cecilia ewig kennen, und die andere gehorchte. Wir benehmen uns beide völlig untypisch, dachte Tess.
    Da kam ihr plötzlich ein Gedanke. »Braucht Polly ihre Turnschuhe gleich? Soll ich sie ihr geschwind in die Schule bringen?«
    Cecilia fuhr zusammen. »Jetzt habe ich schon wieder vergessen, dass Polly heute Sport hat! Komplett vergessen.« Ihr erschrockenes Gesicht brachte Tess zum Lachen. Es war, als hätte Cecilia zum allerersten Mal in ihrem Leben etwas vergessen. »Vor zehn gehen die nicht auf den

Weitere Kostenlose Bücher