Die Wahrheit hat nur ein Gesicht (German Edition)
Hall brauchte sie etwas Elegantes. Doch sie hatte nichts dabei. Als sie die Nachricht vom Zusammenbruch ihrer Mutter erreichte, hatte Emma in der Eile nur das Nötigste mitgenommen. An ein Abendkleid hatte sie dabei natürlich nicht gedacht. Emma betrachtete seufzend ihre Auswahl. Da fiel ihr Blick auf die Tür zum Ankleidezimmer ihrer Mutter. Die berühmte Sängerin hatte eine extravagante, vielseitige Garderobe. Emma betrat den Raum. Hier hing für jeden Anlass das passende Teil.
Traurig und zärtlich strich sie über die kostbaren Stoffe. Ihre Mutter war eine schöne Frau gewesen und oft hatte Emma sie in ihren Roben bewundert. Etwas unsicher nahm sie schließlich ein Kleid aus dem Schrank. Es war aus schwarzem Satin und gleichzeitig schlicht und elegant. Emma zog es an, und da ihre Mutter auch eine zarte, schlanke Frau war, passte ihr das Kleid wie angegossen. Der feine Stoff schmiegte sich wie eine zweite Haut an ihren Körper und das glänzende Schwarz bildete einen wundervollen Kontrast zu ihrem Haar. Stoff und Haare schimmerten um die Wette.
Doch Emma war nicht in der Lage, ihre Schönheit richtig einzuschätzen. Sie fand sich zu dünn, ihren Busen zu klein und ihre Haare? Ja, ihre Haare waren ganz schön. Seufzend drehte sie sich vor dem Spiegel. Sie musste unbedingt ein paar Kilo zunehmen!
Emma hatte glücklicherweise auch die gleiche Schuhgröße wie ihre Mutter und so fiel es ihr nicht schwer, im Schuhschrank ihrer Mutter auch noch passende Schuhe zu finden. So! Fertig! Auf Schmuck würde sie komplett verzichten. Sie liebte es schlicht. Noch ein paar Bürstenstriche durch ihr Haar und es konnte losgehen!
Als sie vor dem Haus ins Taxi stieg, merkte sie plötzlich, dass sie immer noch nicht wusste, um was für ein Konzert es sich handelte. Was würde sie erwarten? Ein Liederabend? Ein Symphoniekonzert? Egal! Sie würde es jedenfalls genießen, Musik zu hören und unter Menschen zu sein. Emma lehnte sich in die Kissen des Wagens und versuchte, sich zu entspannen. Doch plötzlich bremste der Wagen scharf ab. Der Taxifahrer fluchte. Sie standen im Stau. Emma sah auf die Uhr. Zwanzig vor Acht. Wenn das so weiterging, würde sie zu spät kommen.
»Ich nehme die U-Bahn!«
Emma drückte dem Fahrer das Fahrgeld in die Hand und sprang aus dem Wagen. Zu Fuß waren es fünf Minuten zur Bahn, und wenn sie gleich den passenden Anschlusszug nahm, würde sie es gerade noch rechtzeitig schaffen. Zwei Minuten vor acht erreichte Emma etwas außer Puste die Royal Albert Hall. Henry Dillingham wartete schon aufgeregt am Eingang und wedelte mit den Karten.
»Schnell, schnell, es geht gleich los!«
»Tut mir leid. Mein Taxi stand im Stau.«
Emma und Dillingham rannten zum Konzertsaal. Die Dame am Einlass blickte streng und schloss sofort hinter ihnen die Tür.
Erleichterter ließ sich Emma auf ihren Platz in der ersten Reihe fallen. Immerhin! Sie hatte es geschafft.
»Was gibt es denn heute? Wer spielt?« Emma flüsterte, denn das Saallicht war bereits ausgegangen.
Henry Dillingham reichte ihr ein Programm. Emma starrte auf das Blatt in ihrer Hand. Klavierkonzert mit Alex Landon? Alex würde spielen? Emma schluckte: »Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass Alex heute spielt?« Sie sah den Notar vorwurfsvoll an.
»Wärst du mitgekommen, wenn du es gewusst hättest?«
»Nein, natürlich nicht!«
Dillingham lehnte sich grinsend in seinen Stuhl zurück. »Eben!«
Applaus setzte ein. Die Orchestermusiker betraten die Bühne und der Klang von Instrumenten, die gestimmt wurden, erfüllte den Raum.
Emma starrte mit klopfendem Herzen nach vorn. Natürlich wäre sie nicht hierher gekommen, wenn sie gewusst hätte, dass Alex spielte. Aber jetzt wo sie da war, freute sie sich auf die Musik. Sie würde ihn spielen hören. Und sie würde ihn ungestört dabei betrachten dürfen. Allein bei dem Gedanken bekam sie weiche Knie.
Wieder setzte Applaus ein und Alex betrat zusammen mit dem Dirigenten die Bühne. Plötzlich blieb er stehen und starrte in ihre Richtung. Täuschte sie sich, oder hatte er sie bereits in der ersten Reihe entdeckt?
Er setzte sich an den großen Konzertflügel. Der Dirigent hob die Arme, die Musiker konzentrierten sich auf ihre Instrumente. Im Saal wurde es ganz still. Emma hielt den Atem an. Rachmaninows Klavierkonzert Nr. 3. Schwere romantische Musik, die von allen Beteiligten ein Höchstmaß an Konzentration und Hingabe verlangten. Vor allem natürlich vom Pianisten. Und Alex gab sich hin. Noch nie
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