Die Wahrheit über Alice
wenn er zurückkommt,
auch sehen wird, was ich soeben gesehen habe, oder ob er, wenn er es nicht sieht, zumindest spürt, dass irgendwas äußerst
Seltsames im Busch ist. Ich wünsche mir eigentlich wirklich nicht, dass Robbie Alice’ Hand zwischen Bens Beinen sieht. Es
tut mir in der Seele weh, mir seinen Schmerz und seine Demütigung vorzustellen, und mir graut davor, dass der Abend dramatisch
mit Tränen und gegenseitigen wütenden Beschuldigungen endet. Aber Alice demütigt Robbie, und das hat er nicht verdient, und
ein Teil von mir will, dass Alice dafür bestraft wird. Dieser Teil von mir will mit ansehen, wie Robbie ihr eine |111| knallt und sie für immer abserviert. Und dennoch hege ich die kleine und lächerliche (aber hartnäckige) Hoffnung, dass sich
alles wie durch ein Wunder zum Guten wendet, dass Alice wieder zur Vernunft kommt, aufhört, sich so verrückt aufzuführen,
und sich entschuldigt, damit wir drei fröhlich und lachend nach Hause gehen können. Damit wir zur Normalität zurückkehren.
Doch selbst wenn Robbie sieht, wie Alice Ben berührt, muss das nicht unbedingt das Ende ihrer Beziehung bedeuten. Immerhin
habe ich vorhin erfahren, dass Alice mit einem anderen Mann ins Bett gestiegen ist, während sie mit Robbie Urlaub machte,
und trotzdem möchte Robbie weiter mit ihr zusammen sein. Ich habe wirklich keine Ahnung, wie viel Robbie sich von Alice gefallen
lassen würde, aber der Gedanke, mein Verhältnis zu Alice könnte sich unwiderruflich verändert haben, beunruhigt mich und macht
mich ganz schön traurig. So lieblos, wie sie heute den ganzen Abend war, so absichtlich gemein zu mir und Robbie und auch
zu Philippa, kann ich mir nicht vorstellen, ihr je wieder zu vertrauen. Jedenfalls nicht so blind, so bedingungslos. Im Augenblick
bin ich nicht mal mehr sicher, ob ich sie überhaupt noch mag.
Auf der Toilette ist die Tür einer der Kabinen verschlossen, und ich nehme an, dass Philippa sich darin verkrochen hat.
«Philippa?» Ich klopfe leise an die Tür.
Es kommt keine Antwort, aber ich spüre, dass sie dahinter versteinert. Es ist ganz still.
«Philippa. Ich bin’s, Katherine. Ich wollte nur nachsehen, ob alles in Ordnung ist.»
«Katherine?» Ich sehe, wie sich unter der Tür ein Schatten bewegt, dann schließt sie auf und kommt heraus. «Gott sei Dank,
du bist das», sagt sie. «Ich dachte schon, es sei Alice.»
Ihre Augen sind blutunterlaufen, und sie hat rote Flecken auf den Wangen. Sie sieht aus, als hätte sie geweint.
|112| «Alles okay mit dir?», frage ich.
«Ja.» Sie hebt eine Hand vor den Mund und senkt den Blick. Als sie sich wieder im Griff hat, blickt sie auf und lächelt. «Mir
geht’s gut. Danke.»
Sie geht zum Waschbecken und wäscht sich die Hände. Dann fängt sie meinen Blick im Spiegel auf.
«Und, was läuft da draußen so?», fragt sie.
«Ach.» Ich schaue weg. «Wir quatschen bloß, warten aufs Essen, nichts Aufregendes.» Ich bin mir nicht sicher, was sie gesehen
hat, und weiß nicht, wie mitgenommen sie ist.
«Dann treiben Alice und Ben es also noch nicht auf dem Tisch?», fragt sie.
«Was?»
Sie lacht kurz auf, mustert ihr Gesicht im Spiegel und bringt ihr Haar in Ordnung. «Von mir aus sollen sie ruhig, ehrlich.
Das ist mir so was von egal. Ben ist ein Widerling. Ich kenne ihn kaum. Wir sind erst zum zweiten Mal zusammen essen.»
«Tatsache?» Ich starre sie an. «Dann ist er nicht dein Freund?»
«Quatsch.» Sie schüttelt den Kopf. «Gott, nein. So verzweifelt kann ich gar nicht sein.»
Ich lächle jetzt, erleichtert und belustigt zugleich.
Sie grinst mich an, dann wirft sie den Kopf in den Nacken und lacht fröhlich zur Decke. Sie lacht laut und glücklich. Es klingt
nach Erleichterung, so als hätte sie sich die ganze Zeit beherrscht, und ich begreife, dass sie vorhin in der Kabine vielleicht
gar nicht geweint hat. «Alice hatte die Hand auf Bens Oberschenkel. Er hat gedacht, ich könnte es nicht sehen. Sie wusste,
dass ich es sehen konnte. Es war so gottverdammt unangenehm, dazusitzen und bei ihren perversen kleinen Psychospielchen mitzumachen.
Absolut surreal … ich wünschte, ich hätte was gesagt. Aber ich war noch nie besonders geistesgegenwärtig, |113| in solchen Situationen fällt mir nie was Witziges oder Intelligentes ein. Ich bin einfach nicht der schlagfertige Typ.» Sie
hält einen Moment inne und sieht mich dann ernster an. «Was ist bloß los mit der? Mit dieser Alice? Tut
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