Die Wahrheit über Alice
miese Art berühmt. Auf eine zerstörerische, übergriffige
Art, die uns alle nur noch unglücklicher gemacht hat … als wäre es nicht schon unerträglich genug gewesen», sage ich. «Und Psychologen und alle möglichen Leute haben wichtigtuerisches
Zeug über uns verzapft, über unsere ganze Familie. Es war widerlich. Wir fühlten uns absolut … überrannt und missachtet.»
«Was denn so? Was haben sie denn von sich gegeben?»
«Richtig gemeines Zeug. In etlichen Artikeln hieß es, Mum und Dad hätten zu viel Druck auf Rachel ausgeübt und ihren Ehrgeiz
geschürt. Und das stimmt natürlich auch irgendwie. Aber Rachel war ein Genie, ein Wunderkind. Ich meine, natürlich schafft
es niemand zum Spitzenmusiker, wenn er nicht ehrgeizig ist, wenn er nicht wie wahnsinnig dafür arbeitet. Und als |144| Rachel noch am Leben war, wollten die Zeitungen dauernd was über sie bringen und sich in ihrem Glanz sonnen. Alle naselang
gab es Artikel über ‹Melbournes Wunderkind›. Sie waren begeistert, solange Rachel am Leben war. Aber nach ihrer Ermordung
änderte sich alles. Plötzlich fielen sie über uns her und wurden unsere Feinde. Wir waren nicht mehr die Familie, auf die
Melbourne stolz war, nein, auf einmal waren wir die ruhmsüchtige, furchtbare, egoistische Familie, über die jeder gerne herzog.
Sie haben nicht direkt Lügen verbreitet, aber sie rückten alles in ein ganz mieses Licht. Zum Beispiel schrieben sie, dass
Rachel drei oder vier Stunden am Tag Klavier üben musste, und das stimmte auch, natürlich musste sie das. Aber in den Zeitungen
klang es so, als hätten Mum und Dad sie dazu gezwungen. Alles, was sie schrieben, klang übel und furchtbar. Und es stimmte
vorne und hinten nicht. Rachel liebte das Klavier, sie wollte üben, sie wollte die Beste auf der Welt werden, das hat sie
immer gesagt. Und Mum und Dad haben Rachels Ehrgeiz gefördert, das stimmt, aber sie haben sie über alles geliebt. Sie waren
gut zu ihr. Sie waren gut zu uns beiden. Wir waren eine glückliche Familie.» Meine Stimme zittert jetzt. Ich seufze, lege
die Hände vors Gesicht und versuche, die Beherrschung zu wahren. «Wir waren glücklich.»
«Natürlich wart ihr das.»
«Und deshalb», sage ich und hole tief Luft, «habe ich meinen Namen geändert, deshalb wurde aus Katie Boydell Katherine Patterson.
Und deshalb bin ich nach Sydney gekommen. Und deshalb sind auch Mum und Dad weggezogen. Ich hab es dir nicht erzählt, ich
hab es eigentlich niemandem erzählt außer Alice, weil ich einfach nicht mehr Katie Boydell sein wollte. Ich wollte nichts
mehr mit diesem Mädchen zu tun haben. Ich wollte nicht, dass du das von mir erfährst, ehe du mich wirklich kennengelernt hast.
Kannst du das irgendwie verstehen?»
|145| Robbie nickt, legt seine Hand auf meine und drückt sie.
«Aber ich wollte es dir erzählen, Robbie. Ehrlich. Schon öfter. Vor allem als du mir das mit deiner Mum erzählt hast und du
so offen und ehrlich warst. Da wollte ich dir unbedingt vermitteln, dass ich deine Gefühle verstehen kann.»
«Du hast auf mich damals so gewirkt, als hättest du dich besonders intensiv damit auseinandergesetzt. Als hättest du gründlich
darüber nachgedacht oder so.» Er lächelt leicht spöttisch. «Und ich hab gedacht, du wärst Katherine die Superintelligente,
Supersensible, dabei hast du in Wirklichkeit aus eigener Erfahrung gesprochen. Eine Erfahrung, die schlimmer und härter ist,
als sie sich ein normaler Mensch auch nur vorstellen kann.»
Wir essen unser Eis auf, das inzwischen geschmolzen ist, und ich erzähle Robbie von dem Abend, an dem Rachel ermordet wurde.
Und genau wie bei Alice weine und schluchze ich und haue vor wütender Frustration mit den Fäusten auf den Boden. Robbie umarmt
mich und hört ruhig zu und schüttelt vor fassungslosem Entsetzen den Kopf. Er holt mir noch einen Nachschlag von der Eiscreme,
hält meine Hand und stellt mir zig sanfte Fragen. Er weint mit mir, und wir trocknen uns gegenseitig die Tränen, lachen über
unsere Rotznasen und geröteten Augen.
Um Mitternacht sage ich, dass ich erschöpft bin und ins Bett muss. Doch als er sich verabschieden will, bitte ich ihn zu bleiben.
Neben mir zu schlafen. Nicht um Sex zu haben, sondern als Freund. Weil ich nicht allein sein will, weil ich Trost und Nähe
brauche. Und er sagt ja, er würde gern bleiben, er sei froh, dass ich gefragt habe.
Ich gebe Robbie eine von meinen Ersatzzahnbürsten,
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