Die Wahrheit über Marie - Roman
zur Förderung der Zucht reinrassiger Rennpferde in Frankreich ins Leben gerufene Verband war ein Jahrhundert zuvor von Lord Henry Seymour, auch genannt Lord Brüller , gegründet worden (man weiß nicht so recht, wie er zu diesem amüsanten Spitznamen gekommen war, der an Unterwelt, Vorstädte und Lumpengesindel denken lässt, vielleicht hatte es mit seinem Vorleben zu tun, seinen Gewohnheiten, seinen Sitten?), und diesem Verband verdankte man die Modernisierung des Hippodroms von Longchamp, die Einsetzung von Wettkampfrichtern und die ersten, noch rudimentären medizinischen Dopingkontrollen am Pferdespeichel. Es ist also nicht ohne eine gewisse Pikanterie, dass ausgerechnet ein Vorfahre von Jean-Christophe de G. die ersten Dopingkontrollen im Pferderennsport eingeführt hatte, bedenkt man, in welchem Maße die letzten sechs Monate seines Lebens durch die Zahir-Affäre überschattet waren, benannt nach dem Vollblüter, der für das Tokyo Shimbun Hai gemeldet war.
Nicht so sehr das Scheitern des Pferdes in Tokio selbst als vielmehr die Umstände dieses Scheiterns waren es gewesen, was Jean-Christophe de G. so nahegegangen ist und seine letzten Lebensmonate so in Mitleidenschaft gezogen haben dürfte. Nach der Rückkehr des Pferdes nach Frankreich ließen die Gerüchte nicht lange auf sich warten, und dem sich anbahnenden Skandal war umso mehr Neugierde beschieden, als er nie wirklich ausgebrochen war. Offiziell gab es keine Zahir-Affäre, dem Pferd wurde nichts Konkretes zur Last gelegt, aber die Gerüchte hielten sich hartnäckig, von zweifelhaften Testergebnissen war die Rede, von verbotenen Substanzen, die man im Urin des Pferdes entdeckt hätte (man hatte nicht offen von Anabolika gesprochen, aber von Sekundärsubstanzen zu ihrer Verschleierung), und es wurden Verbindungen publik zwischen dem Trainer des Pferdes und einem berüchtigten spanischen Tierarzt, der auch im Dunstkreis von Radrennfahrern und Gewichthebern aufgetaucht war (bei Letzteren dürften seine Fachkenntnisse als Tierarzt natürlich Wunder gewirkt haben). Um das Scheitern Zahirs beim Tokyo Shimbun Hai und die lange Liste der darauf folgenden unerklärlichen Komplikationen und Malaisen zu erklären, hieß es offiziell, es handele sich um die Folgen eines nicht abgeheilten Zahnabszesses, der sich am Tag des Rennens an einer unsterilen Kandare entzündet hatte und mit Injektionen von Antibiotika und anderen nichtsteroidalen entzündungshemmenden Mitteln behandelt werden musste, um das Fieber zu bekämpfen, aber niemand wollte so richtig daran glauben, dass die Asientournee eines rund um die Uhr von einer ganzen Mannschaft hochspezialisierter Tierärzte gepflegten und überwachten Pferdes von einem Tag auf den anderen wegen der simplen Entzündung eines Zahnes beendet sein konnte. Jeder weitere Einsatz Zahirs, seine Teilnahme am Singapur Cup oder am Audemars Piquet Queen Elizabeth II in Hongkong wurde auf der Stelle und ohne jede Erklärung abgesagt und annulliert. Jean-Christophe de G. hatte noch am selben Tag den Trainer entlassen, sich auch schweren Herzens von allen anderen Personen, die das Pferd nach Tokio begleitet hatten, getrennt, der Vollblüter war nach seiner Rückkehr nach Frankreich sofort allen Blicken entzogen und aufs Land, in das Gestüt von Rabey in Quettehou am Ärmelkanal, gebracht worden, in die Stallungen der Familie de Ganay, wo man ihn den Rest des Jahres nicht mehr zu Gesicht bekommen sollte.
Die Entscheidung, das Pferd so unauffällig wie möglich aus Japan herauszuschmuggeln, war in aller Eile an dem Montagmorgen nach dem Rennen getroffen worden, Jean-Christophe de G. hatte alle weiteren Verpflichtungen für die kommenden Monate abgesagt und selbst in Dutzenden von Telefonaten alle Details des Rücktransports des Pferdes nach Europa geregelt, sich danach mit dem Kommissar der JRA, des japanischen Pferderennsportverbands, in Verbindung gesetzt, mit dem er enge Verbindungen unterhielt, da er zusätzliche Probleme am Zoll befürchtete. Am Ende dieses Telefonats traf er die Entscheidung, noch am selben Tag zurückzureisen und persönlich das Pferd nach Europa zu begleiten. Daraufhin rief er Marie an und schlug ihr vor, mit ihm zurückzufahren, und zu seiner großen Überraschung nahm Marie sein Angebot an, ohne sonderlich überrascht zu sein. Doch als das Telefonat beendet war, wurde Marie von einer Welle von Sehnsucht und Trauer überwältigt, als ihr klar wurde, dass sie ohne mich nach Paris zurückfahren würde, wo es
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